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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Unterricht für Steuerleute in der Schiffsheilkunde -- das ist das dem
Seeleben entsprechende Surrogat für specifisch medicinischen Beistand, welches
mehr oder weniger alle Kenner empfehlen. In Bremen, wo er gewisser¬
maßen versuchsweise und facultativ bereits eingeführt ist, sind alle Theile
mit dem bisherigen Erfolge im höchsten Grade zufrieden. Der unterrichtende
Arzt bezeugt, daß Seeleute sich besonders gut für gewisse körperliche Hilfe¬
leistungen eignen. Sie haben viel Ruhe und Kaltblütigkeit, und ihre täg¬
liche Beschäftigung mit dem Tauwerk macht es ihnen leicht, einen Verband
kunstgerecht anzulegen. Trotz seiner blos relativen Bedeutung wird der Unter¬
richt von den jungen Männern eifrig und erfolgreich besucht. Unter den
Cavitänen der bremer Auswandererschiffe gibt es bereits mehrere, die ebenso
regelmäßig und im ganzen nicht ungeschickter, als Aerzte oder eine Hebamme
zu Hilfe kommen, wenn eine Wöchnerin des Zwischendecks ihre Stunde
nahen fühlt. In der Behandlung der gewöhnlichsten Kinderkrankheiten wird
man mit ihnen leicht mindestens auf denselben Grad wirksamen ärztlichen
Zuthuns kommen, wie ihn die in Rede stehende Bevölkerungsschicht, d. h.
die ärmere und ärmste Classe, daheim zu erhalten gewohnt ist, oder vielmehr
darüber hinaus. Epidemien endlich wie Blattern, Cholera und Typhus
spotten ja im wesentlichen auch noch des ärztlichen Einschreitens. Ihnen
gegenüber gilt es, eher einem Uebermaß von Behandlung, namentlich mit
Arzneien, vorzubeugen, als eine bestimmte therapeutische Behandlung durch¬
zusetzen. Ihnen vorzubeugen oder wenn sie unglücklicher Weise doch aus¬
brechen, ihr Bereich einzuschränken, ist die Hauptsache.

Es handelt sich im Zwischendecke der Auswandererschiffe überhaupt nicht
so sehr um positive Heilkunst, als um permanente praktische Gesundheits¬
pflege. Mörderische Schiffsfieber, wie sie die Zwischendecksbevölkerung des
"Leibnitz" zweifach decimirt haben, müssen gar nicht entstehen können. Ihren
Ausbruch aber zu verhüten, hat der Capitän, haben selbst die Steuerleute
ungleich bessere Mittel in der Hand, als der Arzt. Bei jenen ist die Auto¬
rität, die unwiderstehliche und selbst rechtlich fast unumschränkte Gewalt
über alles was an Bord ist, -- diesem würde sie fehlen. Zur Verfügung
des Capitäns ist die Mannschaft, seinen Anordnungen müssen alle Passa¬
giere unweigerliche Folge leisten. Dies ist denn doch eine ganz andere
Macht, als der Einfluß eines einzelnen Arztes auf Hunderte von mangelhaft
erzogenen vorurtheilsvoller Menschen der untersten Stände sein könnte. Es
kommt nur darauf an, dieser Macht einen aufgekärten Willen einzuhauchen,
-- Capitän und Steuerleute mit dem Bewußtsein zu erfüllen, wieviel von
scrupulöser Reinlichkeit, unverdorbenen Lebensmitteln und allen übrigen Be¬
dingungen menschlicher Gesundheit abhängt. Wenn der Capitän des "Leibnitz"
von der Bedeutung dieser Dinge die entfernteste Ahnung gehabt hätte, so


Unterricht für Steuerleute in der Schiffsheilkunde — das ist das dem
Seeleben entsprechende Surrogat für specifisch medicinischen Beistand, welches
mehr oder weniger alle Kenner empfehlen. In Bremen, wo er gewisser¬
maßen versuchsweise und facultativ bereits eingeführt ist, sind alle Theile
mit dem bisherigen Erfolge im höchsten Grade zufrieden. Der unterrichtende
Arzt bezeugt, daß Seeleute sich besonders gut für gewisse körperliche Hilfe¬
leistungen eignen. Sie haben viel Ruhe und Kaltblütigkeit, und ihre täg¬
liche Beschäftigung mit dem Tauwerk macht es ihnen leicht, einen Verband
kunstgerecht anzulegen. Trotz seiner blos relativen Bedeutung wird der Unter¬
richt von den jungen Männern eifrig und erfolgreich besucht. Unter den
Cavitänen der bremer Auswandererschiffe gibt es bereits mehrere, die ebenso
regelmäßig und im ganzen nicht ungeschickter, als Aerzte oder eine Hebamme
zu Hilfe kommen, wenn eine Wöchnerin des Zwischendecks ihre Stunde
nahen fühlt. In der Behandlung der gewöhnlichsten Kinderkrankheiten wird
man mit ihnen leicht mindestens auf denselben Grad wirksamen ärztlichen
Zuthuns kommen, wie ihn die in Rede stehende Bevölkerungsschicht, d. h.
die ärmere und ärmste Classe, daheim zu erhalten gewohnt ist, oder vielmehr
darüber hinaus. Epidemien endlich wie Blattern, Cholera und Typhus
spotten ja im wesentlichen auch noch des ärztlichen Einschreitens. Ihnen
gegenüber gilt es, eher einem Uebermaß von Behandlung, namentlich mit
Arzneien, vorzubeugen, als eine bestimmte therapeutische Behandlung durch¬
zusetzen. Ihnen vorzubeugen oder wenn sie unglücklicher Weise doch aus¬
brechen, ihr Bereich einzuschränken, ist die Hauptsache.

Es handelt sich im Zwischendecke der Auswandererschiffe überhaupt nicht
so sehr um positive Heilkunst, als um permanente praktische Gesundheits¬
pflege. Mörderische Schiffsfieber, wie sie die Zwischendecksbevölkerung des
„Leibnitz" zweifach decimirt haben, müssen gar nicht entstehen können. Ihren
Ausbruch aber zu verhüten, hat der Capitän, haben selbst die Steuerleute
ungleich bessere Mittel in der Hand, als der Arzt. Bei jenen ist die Auto¬
rität, die unwiderstehliche und selbst rechtlich fast unumschränkte Gewalt
über alles was an Bord ist, — diesem würde sie fehlen. Zur Verfügung
des Capitäns ist die Mannschaft, seinen Anordnungen müssen alle Passa¬
giere unweigerliche Folge leisten. Dies ist denn doch eine ganz andere
Macht, als der Einfluß eines einzelnen Arztes auf Hunderte von mangelhaft
erzogenen vorurtheilsvoller Menschen der untersten Stände sein könnte. Es
kommt nur darauf an, dieser Macht einen aufgekärten Willen einzuhauchen,
— Capitän und Steuerleute mit dem Bewußtsein zu erfüllen, wieviel von
scrupulöser Reinlichkeit, unverdorbenen Lebensmitteln und allen übrigen Be¬
dingungen menschlicher Gesundheit abhängt. Wenn der Capitän des „Leibnitz"
von der Bedeutung dieser Dinge die entfernteste Ahnung gehabt hätte, so


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[0388] Unterricht für Steuerleute in der Schiffsheilkunde — das ist das dem Seeleben entsprechende Surrogat für specifisch medicinischen Beistand, welches mehr oder weniger alle Kenner empfehlen. In Bremen, wo er gewisser¬ maßen versuchsweise und facultativ bereits eingeführt ist, sind alle Theile mit dem bisherigen Erfolge im höchsten Grade zufrieden. Der unterrichtende Arzt bezeugt, daß Seeleute sich besonders gut für gewisse körperliche Hilfe¬ leistungen eignen. Sie haben viel Ruhe und Kaltblütigkeit, und ihre täg¬ liche Beschäftigung mit dem Tauwerk macht es ihnen leicht, einen Verband kunstgerecht anzulegen. Trotz seiner blos relativen Bedeutung wird der Unter¬ richt von den jungen Männern eifrig und erfolgreich besucht. Unter den Cavitänen der bremer Auswandererschiffe gibt es bereits mehrere, die ebenso regelmäßig und im ganzen nicht ungeschickter, als Aerzte oder eine Hebamme zu Hilfe kommen, wenn eine Wöchnerin des Zwischendecks ihre Stunde nahen fühlt. In der Behandlung der gewöhnlichsten Kinderkrankheiten wird man mit ihnen leicht mindestens auf denselben Grad wirksamen ärztlichen Zuthuns kommen, wie ihn die in Rede stehende Bevölkerungsschicht, d. h. die ärmere und ärmste Classe, daheim zu erhalten gewohnt ist, oder vielmehr darüber hinaus. Epidemien endlich wie Blattern, Cholera und Typhus spotten ja im wesentlichen auch noch des ärztlichen Einschreitens. Ihnen gegenüber gilt es, eher einem Uebermaß von Behandlung, namentlich mit Arzneien, vorzubeugen, als eine bestimmte therapeutische Behandlung durch¬ zusetzen. Ihnen vorzubeugen oder wenn sie unglücklicher Weise doch aus¬ brechen, ihr Bereich einzuschränken, ist die Hauptsache. Es handelt sich im Zwischendecke der Auswandererschiffe überhaupt nicht so sehr um positive Heilkunst, als um permanente praktische Gesundheits¬ pflege. Mörderische Schiffsfieber, wie sie die Zwischendecksbevölkerung des „Leibnitz" zweifach decimirt haben, müssen gar nicht entstehen können. Ihren Ausbruch aber zu verhüten, hat der Capitän, haben selbst die Steuerleute ungleich bessere Mittel in der Hand, als der Arzt. Bei jenen ist die Auto¬ rität, die unwiderstehliche und selbst rechtlich fast unumschränkte Gewalt über alles was an Bord ist, — diesem würde sie fehlen. Zur Verfügung des Capitäns ist die Mannschaft, seinen Anordnungen müssen alle Passa¬ giere unweigerliche Folge leisten. Dies ist denn doch eine ganz andere Macht, als der Einfluß eines einzelnen Arztes auf Hunderte von mangelhaft erzogenen vorurtheilsvoller Menschen der untersten Stände sein könnte. Es kommt nur darauf an, dieser Macht einen aufgekärten Willen einzuhauchen, — Capitän und Steuerleute mit dem Bewußtsein zu erfüllen, wieviel von scrupulöser Reinlichkeit, unverdorbenen Lebensmitteln und allen übrigen Be¬ dingungen menschlicher Gesundheit abhängt. Wenn der Capitän des „Leibnitz" von der Bedeutung dieser Dinge die entfernteste Ahnung gehabt hätte, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/388>, abgerufen am 05.02.2025.