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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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lungen des Soldaten begleitet, am Tage seines Gottes fühlt er sich als den
Träger uraltheiliger Verheißung, als den Repräsentanten des auserwählten
Volks. Hier, wie allenthalben auf polnischer Erde, gelten noch die orthodoxen
Satzungen der Mischna und Gemara in ihrer ursprünglichen Strenge; ist
das festliche Mahl beendet, so schnallt der Hausherr sich die Tafeln mit den
zehn Geboten an Stirn und Hände, wendet sein Antlitz nach Osten und
spricht die Gebete. Die Synagoge, hier das einzige Gotteshaus des Orts,
besucht der verheirathete Jude nie anders als im flatternden, orientalisch
zugeschnittenen Sterbemantel, und dem Reisenden, der Abends durch die
Gassen des Städtchens eilt, schallt aus dem stillen Heiligthum des gedrück¬
testen Volks der Erde noch immer der stolze Siegesruf der alten Makkabäer-
fürsten in's Ohr: ni KamoKs. wollen ^ekovs-n -- Wer unter den Göttern
ist wie du Jehovah!

So finden sich in dem polnischen Livland all' die Merkmale ächt pol¬
nischer Entwickelung: Jsolirung des Adels, Verwilderung des Bauernstandes,
Herrschaft des jüdischen Elements auf dem wirthschaftlich-industriellen Ge¬
biet, so weit ein solches überhaupt vorhanden ist, in ungeschminktester Weise
wieder. Und doch liegt diese kleine polnische Welt von den Centren pol¬
nischen Lebens weit ab, ist sie zwischen deutschen und russischen Einflüssen
eingekeilt, und selbst von Litthauen durch den breiten Strom der Dura
und einem Zipfel kurländischen Oberlandes, der erst südlich von Dünaburg
aufhört, geschieden. Aber als sei die innere Wahlverwandschaft zwischen
den Bewohnern Jnflands und dem litthauisch-polnischen Wesen unbesiegbar,
sie hat allen geographischen und politischen Schwierigkeiten bis in die Neuzeit
getrotzt; ja es ist den infländischen Polen vielfach gelungen, ihre Nachbaren,
die kurischen Oberländer des illurtschen Kreises, die sich auf ihr Kur-
länderthum sonst nicht wenig zu Gute thun, mit in das polnische Wesen
zu ziehen und dadurch eine Brücke nach Litthauen zu gewinnen. Die Guts¬
besitzer dieses östlichsten Theils der kurischen Erde sind die einzigen baltischen
Deutschen, welche eine gewisse Sympathie für das polnische Wesen zeigen,
die Sitten ihrer Nachbarn anzunehmen nicht ganz verschmäht haben, ja
die Interessen und Anschauungen derselben in gewissem Sinne theilen. Die
Zeiten, in denen dieser oberländische Adel für den eifrigsten Gegner der Ver¬
einigung Kurlands mit der russischen Monarchie galt und einen Anschluß
an die polnische Nationalpartei für im Interesse Kurlands geboten hielt,
die Tage, in denen der Deputirte von Jllurt dem russichen Gesandten auf
offener Straße ein "Haful" (der Jagdruf, mit welchem die Annäherung
eines Wolfs bezeichnet wird) entgegenrief und mit seinen Nachbarn das
Mitauer Ritterhaus verließ, als die Majorität der Landtagsmitglieder die
Unterwerfung unter das Scepter der zweiten Katharina votirte -- sie sind


lungen des Soldaten begleitet, am Tage seines Gottes fühlt er sich als den
Träger uraltheiliger Verheißung, als den Repräsentanten des auserwählten
Volks. Hier, wie allenthalben auf polnischer Erde, gelten noch die orthodoxen
Satzungen der Mischna und Gemara in ihrer ursprünglichen Strenge; ist
das festliche Mahl beendet, so schnallt der Hausherr sich die Tafeln mit den
zehn Geboten an Stirn und Hände, wendet sein Antlitz nach Osten und
spricht die Gebete. Die Synagoge, hier das einzige Gotteshaus des Orts,
besucht der verheirathete Jude nie anders als im flatternden, orientalisch
zugeschnittenen Sterbemantel, und dem Reisenden, der Abends durch die
Gassen des Städtchens eilt, schallt aus dem stillen Heiligthum des gedrück¬
testen Volks der Erde noch immer der stolze Siegesruf der alten Makkabäer-
fürsten in's Ohr: ni KamoKs. wollen ^ekovs-n — Wer unter den Göttern
ist wie du Jehovah!

So finden sich in dem polnischen Livland all' die Merkmale ächt pol¬
nischer Entwickelung: Jsolirung des Adels, Verwilderung des Bauernstandes,
Herrschaft des jüdischen Elements auf dem wirthschaftlich-industriellen Ge¬
biet, so weit ein solches überhaupt vorhanden ist, in ungeschminktester Weise
wieder. Und doch liegt diese kleine polnische Welt von den Centren pol¬
nischen Lebens weit ab, ist sie zwischen deutschen und russischen Einflüssen
eingekeilt, und selbst von Litthauen durch den breiten Strom der Dura
und einem Zipfel kurländischen Oberlandes, der erst südlich von Dünaburg
aufhört, geschieden. Aber als sei die innere Wahlverwandschaft zwischen
den Bewohnern Jnflands und dem litthauisch-polnischen Wesen unbesiegbar,
sie hat allen geographischen und politischen Schwierigkeiten bis in die Neuzeit
getrotzt; ja es ist den infländischen Polen vielfach gelungen, ihre Nachbaren,
die kurischen Oberländer des illurtschen Kreises, die sich auf ihr Kur-
länderthum sonst nicht wenig zu Gute thun, mit in das polnische Wesen
zu ziehen und dadurch eine Brücke nach Litthauen zu gewinnen. Die Guts¬
besitzer dieses östlichsten Theils der kurischen Erde sind die einzigen baltischen
Deutschen, welche eine gewisse Sympathie für das polnische Wesen zeigen,
die Sitten ihrer Nachbarn anzunehmen nicht ganz verschmäht haben, ja
die Interessen und Anschauungen derselben in gewissem Sinne theilen. Die
Zeiten, in denen dieser oberländische Adel für den eifrigsten Gegner der Ver¬
einigung Kurlands mit der russischen Monarchie galt und einen Anschluß
an die polnische Nationalpartei für im Interesse Kurlands geboten hielt,
die Tage, in denen der Deputirte von Jllurt dem russichen Gesandten auf
offener Straße ein „Haful" (der Jagdruf, mit welchem die Annäherung
eines Wolfs bezeichnet wird) entgegenrief und mit seinen Nachbarn das
Mitauer Ritterhaus verließ, als die Majorität der Landtagsmitglieder die
Unterwerfung unter das Scepter der zweiten Katharina votirte — sie sind


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[0301] lungen des Soldaten begleitet, am Tage seines Gottes fühlt er sich als den Träger uraltheiliger Verheißung, als den Repräsentanten des auserwählten Volks. Hier, wie allenthalben auf polnischer Erde, gelten noch die orthodoxen Satzungen der Mischna und Gemara in ihrer ursprünglichen Strenge; ist das festliche Mahl beendet, so schnallt der Hausherr sich die Tafeln mit den zehn Geboten an Stirn und Hände, wendet sein Antlitz nach Osten und spricht die Gebete. Die Synagoge, hier das einzige Gotteshaus des Orts, besucht der verheirathete Jude nie anders als im flatternden, orientalisch zugeschnittenen Sterbemantel, und dem Reisenden, der Abends durch die Gassen des Städtchens eilt, schallt aus dem stillen Heiligthum des gedrück¬ testen Volks der Erde noch immer der stolze Siegesruf der alten Makkabäer- fürsten in's Ohr: ni KamoKs. wollen ^ekovs-n — Wer unter den Göttern ist wie du Jehovah! So finden sich in dem polnischen Livland all' die Merkmale ächt pol¬ nischer Entwickelung: Jsolirung des Adels, Verwilderung des Bauernstandes, Herrschaft des jüdischen Elements auf dem wirthschaftlich-industriellen Ge¬ biet, so weit ein solches überhaupt vorhanden ist, in ungeschminktester Weise wieder. Und doch liegt diese kleine polnische Welt von den Centren pol¬ nischen Lebens weit ab, ist sie zwischen deutschen und russischen Einflüssen eingekeilt, und selbst von Litthauen durch den breiten Strom der Dura und einem Zipfel kurländischen Oberlandes, der erst südlich von Dünaburg aufhört, geschieden. Aber als sei die innere Wahlverwandschaft zwischen den Bewohnern Jnflands und dem litthauisch-polnischen Wesen unbesiegbar, sie hat allen geographischen und politischen Schwierigkeiten bis in die Neuzeit getrotzt; ja es ist den infländischen Polen vielfach gelungen, ihre Nachbaren, die kurischen Oberländer des illurtschen Kreises, die sich auf ihr Kur- länderthum sonst nicht wenig zu Gute thun, mit in das polnische Wesen zu ziehen und dadurch eine Brücke nach Litthauen zu gewinnen. Die Guts¬ besitzer dieses östlichsten Theils der kurischen Erde sind die einzigen baltischen Deutschen, welche eine gewisse Sympathie für das polnische Wesen zeigen, die Sitten ihrer Nachbarn anzunehmen nicht ganz verschmäht haben, ja die Interessen und Anschauungen derselben in gewissem Sinne theilen. Die Zeiten, in denen dieser oberländische Adel für den eifrigsten Gegner der Ver¬ einigung Kurlands mit der russischen Monarchie galt und einen Anschluß an die polnische Nationalpartei für im Interesse Kurlands geboten hielt, die Tage, in denen der Deputirte von Jllurt dem russichen Gesandten auf offener Straße ein „Haful" (der Jagdruf, mit welchem die Annäherung eines Wolfs bezeichnet wird) entgegenrief und mit seinen Nachbarn das Mitauer Ritterhaus verließ, als die Majorität der Landtagsmitglieder die Unterwerfung unter das Scepter der zweiten Katharina votirte — sie sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/301>, abgerufen am 03.07.2024.