Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.Aufstandes von 1863 jede Spur aristokratischer Autorität vernichtet und Aufstandes von 1863 jede Spur aristokratischer Autorität vernichtet und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117298"/> <p xml:id="ID_761" prev="#ID_760" next="#ID_762"> Aufstandes von 1863 jede Spur aristokratischer Autorität vernichtet und<lb/> den Bauer, der noch vor zechn Jahren Sclave war, in eine Herrschaft eingesetzt<lb/> hat, die er einzig mit Juden und niederen russischen Beamten theilen muß.<lb/> Allenthalben, an Schlagbäumen, Schenken, Gerichtsstuben und Quartier¬<lb/> häusern sind die alten polnischen Aufschriften frisch übertüncht und durch<lb/> russische ersetzt, aus denen sich die polnischen und deutschen Namen der<lb/> Güter und Flecken nur mühsam Herausbuchstabiren lassen. Dünaburg und<lb/> allenfalls Kreuzburg ausgenommen, giebt es in dem gesammten, 280 ^Meilen<lb/> umfassenden Lande keine Ortschaften, welche den Namen von Städten ver¬<lb/> dienen — elende, in Koth und Armuth versumpfte Flecken und Sloboden,<lb/> fast ausschließlich von Juden bewohnt, in deren Händen sich Verkehr, Handel<lb/> und Geschäft concentriren, nehmen hier die Stelle von Culturemporien ein.<lb/> Der deutsche Handwerker, dem man bis an die sibirische Grenze hin überall<lb/> in Rußland begegnet, hier ist er trotz der nahen Nachbarschaft der Städte<lb/> des livländischen Ostens nur sehr ausnahmsweise zu finden, denn die rohen, ge¬<lb/> setzlosen Zustände des unter einem ewigen Belagerungszustand begrabenen Landes<lb/> machen friedlichen Verkehr, Ruhe, Sicherheit und ehrlichen Erwerb vollständig<lb/> unmöglich und verscheuchen den friedlichen und friedensbedürftigen Gewerbsmann.<lb/> Es bedarf der Zähigkeit, Gewissenlosigkeit und Geschmeidigkeit des Juden,<lb/> um unter Verhältnissen dieser Art den Muth nicht zu verlieren und ein Ge¬<lb/> schäft zu wagen; darum sind die Begriffe Jude und Geschäftsmann zwischen<lb/> Kreuzburg und Dünaburg von jeher identisch gewesen. Das Geschäft aller<lb/> Geschäfte ist hier freilich Branntweinbrennen und Branntweinschenken. Die<lb/> Mehrzahl der menschlichen Wohnungen, welche die einsame längs der elenden<lb/> Landstraße nach Luczin oder Reczija sich hinziehende Wildniß unterbrechen,<lb/> gehört jüdischen Herbergsvätern an, welche zugleich Hehler, Aufkäufer,<lb/> Gütermäkler und, wo es größere Truppenabtheilungen gibt, Lieferanten und<lb/> Kuppler sind und von früh bis in die Nacht den grünen Fuselbranntwein<lb/> in schmutzige Gläser füllen, die rasch geleert werden. In der einen großen<lb/> Schenkstube, welche an den „Stadoll" (Stall und Wagenraum) des Kruges<lb/> stößt, sitzen an großen Tischen Männer verschiedener Nationen. Den Haupt¬<lb/> lisch haben polnische Edelleute besetzt, die vom Jagdzug' oder vom Besuch in<lb/> dem benachbarten Flecken heimkehren und hier bei einem Glase Punsch rasten,<lb/> — hohe, blasse, schnurrbärtige Gestalten von melancholisch-stolzem Aussehen,<lb/> die ihre Gedanken in'französischer Sprache austauschen, weil ihnen der Ge¬<lb/> brauch des Polnischen bei Strafe verboten ist und an dem Nachbartisch eine<lb/> Gruppe von Gensdarmerie- und Linienoffizieren um den Samowar (Theema¬<lb/> schine) sitzt und über die unerträgliche Langeweile des ländlichen Garnisonsorts<lb/> klagt, der ihrer Überwachung anvertraut ist. Inmitten der Polen findet sich<lb/> wohl auch ein oberländischer Baron, der trotz der Paßschwierigkeiten, die jede</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0294]
Aufstandes von 1863 jede Spur aristokratischer Autorität vernichtet und
den Bauer, der noch vor zechn Jahren Sclave war, in eine Herrschaft eingesetzt
hat, die er einzig mit Juden und niederen russischen Beamten theilen muß.
Allenthalben, an Schlagbäumen, Schenken, Gerichtsstuben und Quartier¬
häusern sind die alten polnischen Aufschriften frisch übertüncht und durch
russische ersetzt, aus denen sich die polnischen und deutschen Namen der
Güter und Flecken nur mühsam Herausbuchstabiren lassen. Dünaburg und
allenfalls Kreuzburg ausgenommen, giebt es in dem gesammten, 280 ^Meilen
umfassenden Lande keine Ortschaften, welche den Namen von Städten ver¬
dienen — elende, in Koth und Armuth versumpfte Flecken und Sloboden,
fast ausschließlich von Juden bewohnt, in deren Händen sich Verkehr, Handel
und Geschäft concentriren, nehmen hier die Stelle von Culturemporien ein.
Der deutsche Handwerker, dem man bis an die sibirische Grenze hin überall
in Rußland begegnet, hier ist er trotz der nahen Nachbarschaft der Städte
des livländischen Ostens nur sehr ausnahmsweise zu finden, denn die rohen, ge¬
setzlosen Zustände des unter einem ewigen Belagerungszustand begrabenen Landes
machen friedlichen Verkehr, Ruhe, Sicherheit und ehrlichen Erwerb vollständig
unmöglich und verscheuchen den friedlichen und friedensbedürftigen Gewerbsmann.
Es bedarf der Zähigkeit, Gewissenlosigkeit und Geschmeidigkeit des Juden,
um unter Verhältnissen dieser Art den Muth nicht zu verlieren und ein Ge¬
schäft zu wagen; darum sind die Begriffe Jude und Geschäftsmann zwischen
Kreuzburg und Dünaburg von jeher identisch gewesen. Das Geschäft aller
Geschäfte ist hier freilich Branntweinbrennen und Branntweinschenken. Die
Mehrzahl der menschlichen Wohnungen, welche die einsame längs der elenden
Landstraße nach Luczin oder Reczija sich hinziehende Wildniß unterbrechen,
gehört jüdischen Herbergsvätern an, welche zugleich Hehler, Aufkäufer,
Gütermäkler und, wo es größere Truppenabtheilungen gibt, Lieferanten und
Kuppler sind und von früh bis in die Nacht den grünen Fuselbranntwein
in schmutzige Gläser füllen, die rasch geleert werden. In der einen großen
Schenkstube, welche an den „Stadoll" (Stall und Wagenraum) des Kruges
stößt, sitzen an großen Tischen Männer verschiedener Nationen. Den Haupt¬
lisch haben polnische Edelleute besetzt, die vom Jagdzug' oder vom Besuch in
dem benachbarten Flecken heimkehren und hier bei einem Glase Punsch rasten,
— hohe, blasse, schnurrbärtige Gestalten von melancholisch-stolzem Aussehen,
die ihre Gedanken in'französischer Sprache austauschen, weil ihnen der Ge¬
brauch des Polnischen bei Strafe verboten ist und an dem Nachbartisch eine
Gruppe von Gensdarmerie- und Linienoffizieren um den Samowar (Theema¬
schine) sitzt und über die unerträgliche Langeweile des ländlichen Garnisonsorts
klagt, der ihrer Überwachung anvertraut ist. Inmitten der Polen findet sich
wohl auch ein oberländischer Baron, der trotz der Paßschwierigkeiten, die jede
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