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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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nen deutschen Namen Dünaburg und Marienhausen werden mit polnischer
Betonung Dur^burch und Marjengause ausgesprochen. An den Aufständen
von 1831 und 1863 haben die "Ausländer" nach Kräften Theil genommen
und es dadurch selbst verschuldet, daß sie das harte Schicksal, welches die
Murawjew und Kaufmann Litthauen bereiteten, mittragen mußten. Polnisch
Livland gehört zum Gouv. Witepsk und hat demgemäß den Belagerungs¬
zustand, die militärische Dictatur der Kreiscommandeure, das harte Ab¬
lösungsgesetz und die unerschwinglichen Contributionen von 1863, 64 und
65 dulden müssen. Gleich den Weißrussen und Litthauern wurden auch
die Letten von polnisch Livland gegen ihre Herren unter die Waffen gerufen
und in die Drushina (Miliz) eingeordnet, welche den russischen Truppen im
Kampf gegen die polnischen Banden Beistand leisten sollte.

Der Gegensatz zwischen deutsch-protestantischen und polnisch-katholischen
Einflüssen läßt sich kaum irgendwo deutlicher verfolgen, als bei dem Ueber¬
gang von livländischen auf inländischen (polnisch'livländischen) Boden. Das
Volk, welches hüben und drüben den Boden bearbeitet, ist dasselbe -- und
doch glaubt man sich in eine andere Welt versetzt, wenn man bei Kreuzburg
(einer Station der Riga-Dünaburger Eisenbahn) das deutsche Livland ver¬
lassen hat. Ein Theil der Bewohner dieser reichen Grenzstarostei ist zwar
infolge des zufälligen Umstandes, daß seine Besitzer dem kurlcindischen
Geschlecht der Freiherrn von Korff angehörten, lutherisch geblieben, aber auf
den ersten Blick läßt sich erkennen, daß dem Lutherthum der Kreuzburger die
nothwendige Supplemente protestantischer Entwickelung, politische Freiheit
und ein geordnetes Schulwesen, Jahrhunderte lang gefehlt haben. Die Bauer¬
häuser werden niedriger und schmutziger, nach Rauchfang und Glasfenster
sieht man sich vergeblich um, die Straßen, welche die Wohnungen der
Menschen verbinden, sind schlecht erhalten, entbehren der Brücken und der
Grabeneinfasfung; das reinliche blaugraue Kleid, an welchem der Leite allent¬
halben zu erkennen ist, verwandelt sich in ein schmutziges Grau, die Füße
des Wandrers sind nicht mit Lederstiefeln, sondern mit Bastsandalen bedeckt
und der scheue, mißtrauische Blick, mit welchem der Bauer den "Herrn"
betrachtet, der sich in sein Land verirrt hat, verräth die Gewöhnung der
Abhängigkeit. Je weiter man nach Osten vordringt, desto unheimlicher wird
der Eindruck, den die Landschaft ausübt: Wald auf allen Seiten, Wasser in
den zahllosen Tümpeln, Teichen und Seen, welche das Land zerreißen, häufig
auch auf den mangelhaft bearbeiteten, schlechtangebauten Feldern. Die
Bauern leben, wie in Liv- und Kurland, auf versprengten Gehöften, aber
es fehlen die sichern, festen Abgrenzungen und Arrondirungen. welche Liv¬
land der schwedischen Epoche zu danken hat, es sehlt das sittigende Beispiel
des Gutsherrn und des Predigers, vollends seit die Niederschlagung deß


nen deutschen Namen Dünaburg und Marienhausen werden mit polnischer
Betonung Dur^burch und Marjengause ausgesprochen. An den Aufständen
von 1831 und 1863 haben die „Ausländer" nach Kräften Theil genommen
und es dadurch selbst verschuldet, daß sie das harte Schicksal, welches die
Murawjew und Kaufmann Litthauen bereiteten, mittragen mußten. Polnisch
Livland gehört zum Gouv. Witepsk und hat demgemäß den Belagerungs¬
zustand, die militärische Dictatur der Kreiscommandeure, das harte Ab¬
lösungsgesetz und die unerschwinglichen Contributionen von 1863, 64 und
65 dulden müssen. Gleich den Weißrussen und Litthauern wurden auch
die Letten von polnisch Livland gegen ihre Herren unter die Waffen gerufen
und in die Drushina (Miliz) eingeordnet, welche den russischen Truppen im
Kampf gegen die polnischen Banden Beistand leisten sollte.

Der Gegensatz zwischen deutsch-protestantischen und polnisch-katholischen
Einflüssen läßt sich kaum irgendwo deutlicher verfolgen, als bei dem Ueber¬
gang von livländischen auf inländischen (polnisch'livländischen) Boden. Das
Volk, welches hüben und drüben den Boden bearbeitet, ist dasselbe — und
doch glaubt man sich in eine andere Welt versetzt, wenn man bei Kreuzburg
(einer Station der Riga-Dünaburger Eisenbahn) das deutsche Livland ver¬
lassen hat. Ein Theil der Bewohner dieser reichen Grenzstarostei ist zwar
infolge des zufälligen Umstandes, daß seine Besitzer dem kurlcindischen
Geschlecht der Freiherrn von Korff angehörten, lutherisch geblieben, aber auf
den ersten Blick läßt sich erkennen, daß dem Lutherthum der Kreuzburger die
nothwendige Supplemente protestantischer Entwickelung, politische Freiheit
und ein geordnetes Schulwesen, Jahrhunderte lang gefehlt haben. Die Bauer¬
häuser werden niedriger und schmutziger, nach Rauchfang und Glasfenster
sieht man sich vergeblich um, die Straßen, welche die Wohnungen der
Menschen verbinden, sind schlecht erhalten, entbehren der Brücken und der
Grabeneinfasfung; das reinliche blaugraue Kleid, an welchem der Leite allent¬
halben zu erkennen ist, verwandelt sich in ein schmutziges Grau, die Füße
des Wandrers sind nicht mit Lederstiefeln, sondern mit Bastsandalen bedeckt
und der scheue, mißtrauische Blick, mit welchem der Bauer den „Herrn"
betrachtet, der sich in sein Land verirrt hat, verräth die Gewöhnung der
Abhängigkeit. Je weiter man nach Osten vordringt, desto unheimlicher wird
der Eindruck, den die Landschaft ausübt: Wald auf allen Seiten, Wasser in
den zahllosen Tümpeln, Teichen und Seen, welche das Land zerreißen, häufig
auch auf den mangelhaft bearbeiteten, schlechtangebauten Feldern. Die
Bauern leben, wie in Liv- und Kurland, auf versprengten Gehöften, aber
es fehlen die sichern, festen Abgrenzungen und Arrondirungen. welche Liv¬
land der schwedischen Epoche zu danken hat, es sehlt das sittigende Beispiel
des Gutsherrn und des Predigers, vollends seit die Niederschlagung deß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/293>, abgerufen am 24.08.2024.