Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

klugen wollte, auch nur die schmalen, langgestreckten Bisthümer Kurland
und Semgallen zu überfluthen und sich dadurch einen Weg an die Ostsee
oder den rigaschen Meerbusen zu bahnen, waren die vier östlichen Voigteien
des alten Livland Dünaburg, Rohleder, Lützen und Marienhausen, nach Be¬
endigung des polnisch-schwedischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von
Oliva (1660) an Polen abgetreten und in den folgenden hundert Jahren pol¬
nischer Herrschaft beinahe vollständig polonisirt und katholisirt worden. Am
13> Januar 1773 "im Namen der einen und untheilbaren heiligen Dreieinig¬
keit" mit Nußland verbunden, bildet diese etwa 280 >ü Meilen große, von ,
zweimalhunderttausend Menschen bewohnte, von den Russen "Jnflandija" ge¬
nannte Landschaft heute einen Theil des Gouvernements Witepsk und hat in
dieser Eigenschaft an allen Geschicken des ehemaligen Polen treulichen An¬
theil genommen. Dieser vergessene Winkel, der seit Jahrhunderten von der
Heerstraße der Cultur abliegt, in dem es keine Städte von irgend welcher
Bedeutung gibt, in welchem keine der um seine Herrschaft ringenden Nationen,
weder die deutsche, noch die polnische oder russische jemals dazu gelangt ist,
dauernden und wahrhaft civilisatorischen Einfluß zu erlangen, und dem das
traurige Loos zu Theil geworden, plötzlich von der höheren in eine niedere
Entwickelungsstufe herabgezerrt zu werden, bildet ein ethnographisches und
culturgeschichtliches Curiosum, wie es -- nicht eben zum Schaden der Mensch¬
heit -- einzig in seiner Art ist. Im Westen an den ärmsten und zurück¬
gebliebensten Theil Livlands grenzend, im Süden dem halb polonisirten curi-
schen Oberlande benachbart, nördlich von dem russischen Gouvernement Pleskau
(Pskow), östlich von Witepsk umschlossen, bietet dieses Land eine Musterkarte
verschiedener Völkerschaften, welche sämmtlich durch ihre traurigsten Exemplare
vertreten sind. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein Theil des livlän-
dischen Ordensstaats, nahm "Instand" durch Jahrhunderte an der Entwicke¬
lung baltisch-deutschen Lebens den vollständigsten Antheil. Seine lettischen
Bewohner mußten seit dem 12. Jahrhundert den Druck der auf ihren
weiter westlich wohnenden Landsleuten ruhenden Leibeigenschaft theilen;
eine Reihe stolzer Burgen, deren ursprünglich deutsche Namen sich noch heute
aus der polnischen Verstümmelung erkennen lassen, bildeten die Sitze der
Ordensvögte, Aebte und Vasallen, welche über dem Lande walteten, und
unter denen die im I. 1277 angelegte Dünaburg die vornehmste war. Auf den
weiten, mit dunkeln Tannenwäldern bedeckten Ebenen dieses Landes wurde man¬
cher blutige Strauß gegen die von Osten andrängenden Russen und Litthauer
ausgefochten, die diese nur schwach bevölkerten, größerer Städte entbehren¬
den östlichen Voigteien mit Vorliebe zum Angriffspunkt wählten. Von den
Hauptstädten der deutschen Gesittung weitabliegend zählten die Flecken Ma¬
rienhausen, Lützen und Dünaburg nur spärliche deutsche Bürger und ihre


36*

klugen wollte, auch nur die schmalen, langgestreckten Bisthümer Kurland
und Semgallen zu überfluthen und sich dadurch einen Weg an die Ostsee
oder den rigaschen Meerbusen zu bahnen, waren die vier östlichen Voigteien
des alten Livland Dünaburg, Rohleder, Lützen und Marienhausen, nach Be¬
endigung des polnisch-schwedischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von
Oliva (1660) an Polen abgetreten und in den folgenden hundert Jahren pol¬
nischer Herrschaft beinahe vollständig polonisirt und katholisirt worden. Am
13> Januar 1773 „im Namen der einen und untheilbaren heiligen Dreieinig¬
keit" mit Nußland verbunden, bildet diese etwa 280 >ü Meilen große, von ,
zweimalhunderttausend Menschen bewohnte, von den Russen „Jnflandija" ge¬
nannte Landschaft heute einen Theil des Gouvernements Witepsk und hat in
dieser Eigenschaft an allen Geschicken des ehemaligen Polen treulichen An¬
theil genommen. Dieser vergessene Winkel, der seit Jahrhunderten von der
Heerstraße der Cultur abliegt, in dem es keine Städte von irgend welcher
Bedeutung gibt, in welchem keine der um seine Herrschaft ringenden Nationen,
weder die deutsche, noch die polnische oder russische jemals dazu gelangt ist,
dauernden und wahrhaft civilisatorischen Einfluß zu erlangen, und dem das
traurige Loos zu Theil geworden, plötzlich von der höheren in eine niedere
Entwickelungsstufe herabgezerrt zu werden, bildet ein ethnographisches und
culturgeschichtliches Curiosum, wie es — nicht eben zum Schaden der Mensch¬
heit — einzig in seiner Art ist. Im Westen an den ärmsten und zurück¬
gebliebensten Theil Livlands grenzend, im Süden dem halb polonisirten curi-
schen Oberlande benachbart, nördlich von dem russischen Gouvernement Pleskau
(Pskow), östlich von Witepsk umschlossen, bietet dieses Land eine Musterkarte
verschiedener Völkerschaften, welche sämmtlich durch ihre traurigsten Exemplare
vertreten sind. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein Theil des livlän-
dischen Ordensstaats, nahm „Instand" durch Jahrhunderte an der Entwicke¬
lung baltisch-deutschen Lebens den vollständigsten Antheil. Seine lettischen
Bewohner mußten seit dem 12. Jahrhundert den Druck der auf ihren
weiter westlich wohnenden Landsleuten ruhenden Leibeigenschaft theilen;
eine Reihe stolzer Burgen, deren ursprünglich deutsche Namen sich noch heute
aus der polnischen Verstümmelung erkennen lassen, bildeten die Sitze der
Ordensvögte, Aebte und Vasallen, welche über dem Lande walteten, und
unter denen die im I. 1277 angelegte Dünaburg die vornehmste war. Auf den
weiten, mit dunkeln Tannenwäldern bedeckten Ebenen dieses Landes wurde man¬
cher blutige Strauß gegen die von Osten andrängenden Russen und Litthauer
ausgefochten, die diese nur schwach bevölkerten, größerer Städte entbehren¬
den östlichen Voigteien mit Vorliebe zum Angriffspunkt wählten. Von den
Hauptstädten der deutschen Gesittung weitabliegend zählten die Flecken Ma¬
rienhausen, Lützen und Dünaburg nur spärliche deutsche Bürger und ihre


36*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117295"/>
            <p xml:id="ID_756" prev="#ID_755" next="#ID_757"> klugen wollte, auch nur die schmalen, langgestreckten Bisthümer Kurland<lb/>
und Semgallen zu überfluthen und sich dadurch einen Weg an die Ostsee<lb/>
oder den rigaschen Meerbusen zu bahnen, waren die vier östlichen Voigteien<lb/>
des alten Livland Dünaburg, Rohleder, Lützen und Marienhausen, nach Be¬<lb/>
endigung des polnisch-schwedischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von<lb/>
Oliva (1660) an Polen abgetreten und in den folgenden hundert Jahren pol¬<lb/>
nischer Herrschaft beinahe vollständig polonisirt und katholisirt worden. Am<lb/>
13&gt; Januar 1773 &#x201E;im Namen der einen und untheilbaren heiligen Dreieinig¬<lb/>
keit" mit Nußland verbunden, bildet diese etwa 280 &gt;ü Meilen große, von ,<lb/>
zweimalhunderttausend Menschen bewohnte, von den Russen &#x201E;Jnflandija" ge¬<lb/>
nannte Landschaft heute einen Theil des Gouvernements Witepsk und hat in<lb/>
dieser Eigenschaft an allen Geschicken des ehemaligen Polen treulichen An¬<lb/>
theil genommen. Dieser vergessene Winkel, der seit Jahrhunderten von der<lb/>
Heerstraße der Cultur abliegt, in dem es keine Städte von irgend welcher<lb/>
Bedeutung gibt, in welchem keine der um seine Herrschaft ringenden Nationen,<lb/>
weder die deutsche, noch die polnische oder russische jemals dazu gelangt ist,<lb/>
dauernden und wahrhaft civilisatorischen Einfluß zu erlangen, und dem das<lb/>
traurige Loos zu Theil geworden, plötzlich von der höheren in eine niedere<lb/>
Entwickelungsstufe herabgezerrt zu werden, bildet ein ethnographisches und<lb/>
culturgeschichtliches Curiosum, wie es &#x2014; nicht eben zum Schaden der Mensch¬<lb/>
heit &#x2014; einzig in seiner Art ist. Im Westen an den ärmsten und zurück¬<lb/>
gebliebensten Theil Livlands grenzend, im Süden dem halb polonisirten curi-<lb/>
schen Oberlande benachbart, nördlich von dem russischen Gouvernement Pleskau<lb/>
(Pskow), östlich von Witepsk umschlossen, bietet dieses Land eine Musterkarte<lb/>
verschiedener Völkerschaften, welche sämmtlich durch ihre traurigsten Exemplare<lb/>
vertreten sind. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein Theil des livlän-<lb/>
dischen Ordensstaats, nahm &#x201E;Instand" durch Jahrhunderte an der Entwicke¬<lb/>
lung baltisch-deutschen Lebens den vollständigsten Antheil. Seine lettischen<lb/>
Bewohner mußten seit dem 12. Jahrhundert den Druck der auf ihren<lb/>
weiter westlich wohnenden Landsleuten ruhenden Leibeigenschaft theilen;<lb/>
eine Reihe stolzer Burgen, deren ursprünglich deutsche Namen sich noch heute<lb/>
aus der polnischen Verstümmelung erkennen lassen, bildeten die Sitze der<lb/>
Ordensvögte, Aebte und Vasallen, welche über dem Lande walteten, und<lb/>
unter denen die im I. 1277 angelegte Dünaburg die vornehmste war. Auf den<lb/>
weiten, mit dunkeln Tannenwäldern bedeckten Ebenen dieses Landes wurde man¬<lb/>
cher blutige Strauß gegen die von Osten andrängenden Russen und Litthauer<lb/>
ausgefochten, die diese nur schwach bevölkerten, größerer Städte entbehren¬<lb/>
den östlichen Voigteien mit Vorliebe zum Angriffspunkt wählten. Von den<lb/>
Hauptstädten der deutschen Gesittung weitabliegend zählten die Flecken Ma¬<lb/>
rienhausen, Lützen und Dünaburg nur spärliche deutsche Bürger und ihre</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 36*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] klugen wollte, auch nur die schmalen, langgestreckten Bisthümer Kurland und Semgallen zu überfluthen und sich dadurch einen Weg an die Ostsee oder den rigaschen Meerbusen zu bahnen, waren die vier östlichen Voigteien des alten Livland Dünaburg, Rohleder, Lützen und Marienhausen, nach Be¬ endigung des polnisch-schwedischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von Oliva (1660) an Polen abgetreten und in den folgenden hundert Jahren pol¬ nischer Herrschaft beinahe vollständig polonisirt und katholisirt worden. Am 13> Januar 1773 „im Namen der einen und untheilbaren heiligen Dreieinig¬ keit" mit Nußland verbunden, bildet diese etwa 280 >ü Meilen große, von , zweimalhunderttausend Menschen bewohnte, von den Russen „Jnflandija" ge¬ nannte Landschaft heute einen Theil des Gouvernements Witepsk und hat in dieser Eigenschaft an allen Geschicken des ehemaligen Polen treulichen An¬ theil genommen. Dieser vergessene Winkel, der seit Jahrhunderten von der Heerstraße der Cultur abliegt, in dem es keine Städte von irgend welcher Bedeutung gibt, in welchem keine der um seine Herrschaft ringenden Nationen, weder die deutsche, noch die polnische oder russische jemals dazu gelangt ist, dauernden und wahrhaft civilisatorischen Einfluß zu erlangen, und dem das traurige Loos zu Theil geworden, plötzlich von der höheren in eine niedere Entwickelungsstufe herabgezerrt zu werden, bildet ein ethnographisches und culturgeschichtliches Curiosum, wie es — nicht eben zum Schaden der Mensch¬ heit — einzig in seiner Art ist. Im Westen an den ärmsten und zurück¬ gebliebensten Theil Livlands grenzend, im Süden dem halb polonisirten curi- schen Oberlande benachbart, nördlich von dem russischen Gouvernement Pleskau (Pskow), östlich von Witepsk umschlossen, bietet dieses Land eine Musterkarte verschiedener Völkerschaften, welche sämmtlich durch ihre traurigsten Exemplare vertreten sind. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein Theil des livlän- dischen Ordensstaats, nahm „Instand" durch Jahrhunderte an der Entwicke¬ lung baltisch-deutschen Lebens den vollständigsten Antheil. Seine lettischen Bewohner mußten seit dem 12. Jahrhundert den Druck der auf ihren weiter westlich wohnenden Landsleuten ruhenden Leibeigenschaft theilen; eine Reihe stolzer Burgen, deren ursprünglich deutsche Namen sich noch heute aus der polnischen Verstümmelung erkennen lassen, bildeten die Sitze der Ordensvögte, Aebte und Vasallen, welche über dem Lande walteten, und unter denen die im I. 1277 angelegte Dünaburg die vornehmste war. Auf den weiten, mit dunkeln Tannenwäldern bedeckten Ebenen dieses Landes wurde man¬ cher blutige Strauß gegen die von Osten andrängenden Russen und Litthauer ausgefochten, die diese nur schwach bevölkerten, größerer Städte entbehren¬ den östlichen Voigteien mit Vorliebe zum Angriffspunkt wählten. Von den Hauptstädten der deutschen Gesittung weitabliegend zählten die Flecken Ma¬ rienhausen, Lützen und Dünaburg nur spärliche deutsche Bürger und ihre 36*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/291>, abgerufen am 03.07.2024.