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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Tage lang durch Länder, von deren Kirchthürmen der lutherische Hahn treu¬
herzig hinabschaute, und erst wenn er zwischen Narwa und der alten Tataren¬
feste Jwangorod die reißende Narowa überschritten hatte, wurden die Kuppeln
byzantinischer Tempel und die zweimal durchbrochenen griechischen Kreuze
vorherrschend und fand er endlich jene rothhemdigen, vollbärtigen russischen
Gestalten vor, mit denen seine freigebige Phantasie alles Land der unerme߬
lichen sarmatischen Ebenen bevölkert hatte.

Von einem dieser auf der Grenzscheide occidentalen und slavisch-orienta¬
lischen Lebens liegenden Culturgebiete, dem die drei Ostseeprovinzen Liv-,
Esth- und Kurland umfassenden baltisch-deutschen, haben die "Grenzboten"
jüngst (1867, IV) ausführlich berichtet, um die Erinnerung an die einstige
Gemeinschaft Deutschlands mit der versprengten nordischen Colonie wachzu¬
rufen und an derselben die unbesiegbare Zähigkeit deutscher Art nachzuweisen.
Zwischen der Südgrenze Kurlands und der äußersten Nordostmark des preu¬
ßischen Staats liegt ein breiter Landstrich, von den Enkeln der Samogitier
(Samaiten, Schanden) und der über diese herrschenden Polen bewohnt, der
das weite deutsche Colonisationsgebiet, welches sich von den sumpfigen Nie¬
derungen der Weichselmündung bis zum felsigen Ufer des finnischen Meer¬
busens erstreckt, gewaltsam durchschneidet und wesentlich dazu beigetragen
hat, daß die noch am Ende des Is. Jahrhunderts ihrer Vollendung nahe
gebrachte Herrschaft unseres Volkes über das baltische Meer ein Traum ge¬
blieben ist. Von dem östlichsten Ausläufer dieses Landes, dem sog. polnischen
Livland, welches heute Russen und Polen, die einen im Namen des Nationalitäts¬
prinzips, die andern in dem stolzen Bewußtsein, Träger seiner Cultur gewesen
zu sein, in Anspruch nehmen, soll w den nachstehenden Blättern ein flüchtiges
Bild entworfen werden. Auch an seinen Boden knüpft sich ein Stück deutscher Ge¬
schichte, auch hier ist der römisch-deutsche Kaiser einst Herr gewesen, aber nur müh¬
sam lassen sich diese Trümmer deutscher Vergangenheit aus dem Schutt, der sie
bedeckt, herausgraben. Orientiren wir uns zuvörderst über seine Grenzen und
die Bevölkerungsverhältnisse, welche für seine Zukunft bestimmend sein werden.

Das ehemalige Großfürstenthum Litthauen, welches die heutigen Gouver¬
nements Grodno, Kowno, Wilna, Minsk, Witepsk umfaßt, zerfiel zu polni¬
scher Zeit in die drei Landschaften Litthauen (Woyewodschaften Wilna und
Troll), litthauisch Reußen (Woyewodschaften Schwarzrußland, Weißrußland,
Mcisclaw, Witepsk, Smolensk, Polozk und polnisch Livland) und Samo-
gitien. Zwei dieser Provinzen, das ehemalige Samogitien und polnisch
Livland waren dem Besitz des deutschen Ordens entrissen worden, die erstere
beim Beginn des fünfzehnten, die letztere im siebzehnten Jahrhundert.

Während die Dura sonst die äußerste Nordgrenze der polnischen Herr¬
schaft bildete, und es den Polen ebenso wenig wie den alten Litthauern ge-


Tage lang durch Länder, von deren Kirchthürmen der lutherische Hahn treu¬
herzig hinabschaute, und erst wenn er zwischen Narwa und der alten Tataren¬
feste Jwangorod die reißende Narowa überschritten hatte, wurden die Kuppeln
byzantinischer Tempel und die zweimal durchbrochenen griechischen Kreuze
vorherrschend und fand er endlich jene rothhemdigen, vollbärtigen russischen
Gestalten vor, mit denen seine freigebige Phantasie alles Land der unerme߬
lichen sarmatischen Ebenen bevölkert hatte.

Von einem dieser auf der Grenzscheide occidentalen und slavisch-orienta¬
lischen Lebens liegenden Culturgebiete, dem die drei Ostseeprovinzen Liv-,
Esth- und Kurland umfassenden baltisch-deutschen, haben die „Grenzboten"
jüngst (1867, IV) ausführlich berichtet, um die Erinnerung an die einstige
Gemeinschaft Deutschlands mit der versprengten nordischen Colonie wachzu¬
rufen und an derselben die unbesiegbare Zähigkeit deutscher Art nachzuweisen.
Zwischen der Südgrenze Kurlands und der äußersten Nordostmark des preu¬
ßischen Staats liegt ein breiter Landstrich, von den Enkeln der Samogitier
(Samaiten, Schanden) und der über diese herrschenden Polen bewohnt, der
das weite deutsche Colonisationsgebiet, welches sich von den sumpfigen Nie¬
derungen der Weichselmündung bis zum felsigen Ufer des finnischen Meer¬
busens erstreckt, gewaltsam durchschneidet und wesentlich dazu beigetragen
hat, daß die noch am Ende des Is. Jahrhunderts ihrer Vollendung nahe
gebrachte Herrschaft unseres Volkes über das baltische Meer ein Traum ge¬
blieben ist. Von dem östlichsten Ausläufer dieses Landes, dem sog. polnischen
Livland, welches heute Russen und Polen, die einen im Namen des Nationalitäts¬
prinzips, die andern in dem stolzen Bewußtsein, Träger seiner Cultur gewesen
zu sein, in Anspruch nehmen, soll w den nachstehenden Blättern ein flüchtiges
Bild entworfen werden. Auch an seinen Boden knüpft sich ein Stück deutscher Ge¬
schichte, auch hier ist der römisch-deutsche Kaiser einst Herr gewesen, aber nur müh¬
sam lassen sich diese Trümmer deutscher Vergangenheit aus dem Schutt, der sie
bedeckt, herausgraben. Orientiren wir uns zuvörderst über seine Grenzen und
die Bevölkerungsverhältnisse, welche für seine Zukunft bestimmend sein werden.

Das ehemalige Großfürstenthum Litthauen, welches die heutigen Gouver¬
nements Grodno, Kowno, Wilna, Minsk, Witepsk umfaßt, zerfiel zu polni¬
scher Zeit in die drei Landschaften Litthauen (Woyewodschaften Wilna und
Troll), litthauisch Reußen (Woyewodschaften Schwarzrußland, Weißrußland,
Mcisclaw, Witepsk, Smolensk, Polozk und polnisch Livland) und Samo-
gitien. Zwei dieser Provinzen, das ehemalige Samogitien und polnisch
Livland waren dem Besitz des deutschen Ordens entrissen worden, die erstere
beim Beginn des fünfzehnten, die letztere im siebzehnten Jahrhundert.

Während die Dura sonst die äußerste Nordgrenze der polnischen Herr¬
schaft bildete, und es den Polen ebenso wenig wie den alten Litthauern ge-


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[0290] Tage lang durch Länder, von deren Kirchthürmen der lutherische Hahn treu¬ herzig hinabschaute, und erst wenn er zwischen Narwa und der alten Tataren¬ feste Jwangorod die reißende Narowa überschritten hatte, wurden die Kuppeln byzantinischer Tempel und die zweimal durchbrochenen griechischen Kreuze vorherrschend und fand er endlich jene rothhemdigen, vollbärtigen russischen Gestalten vor, mit denen seine freigebige Phantasie alles Land der unerme߬ lichen sarmatischen Ebenen bevölkert hatte. Von einem dieser auf der Grenzscheide occidentalen und slavisch-orienta¬ lischen Lebens liegenden Culturgebiete, dem die drei Ostseeprovinzen Liv-, Esth- und Kurland umfassenden baltisch-deutschen, haben die „Grenzboten" jüngst (1867, IV) ausführlich berichtet, um die Erinnerung an die einstige Gemeinschaft Deutschlands mit der versprengten nordischen Colonie wachzu¬ rufen und an derselben die unbesiegbare Zähigkeit deutscher Art nachzuweisen. Zwischen der Südgrenze Kurlands und der äußersten Nordostmark des preu¬ ßischen Staats liegt ein breiter Landstrich, von den Enkeln der Samogitier (Samaiten, Schanden) und der über diese herrschenden Polen bewohnt, der das weite deutsche Colonisationsgebiet, welches sich von den sumpfigen Nie¬ derungen der Weichselmündung bis zum felsigen Ufer des finnischen Meer¬ busens erstreckt, gewaltsam durchschneidet und wesentlich dazu beigetragen hat, daß die noch am Ende des Is. Jahrhunderts ihrer Vollendung nahe gebrachte Herrschaft unseres Volkes über das baltische Meer ein Traum ge¬ blieben ist. Von dem östlichsten Ausläufer dieses Landes, dem sog. polnischen Livland, welches heute Russen und Polen, die einen im Namen des Nationalitäts¬ prinzips, die andern in dem stolzen Bewußtsein, Träger seiner Cultur gewesen zu sein, in Anspruch nehmen, soll w den nachstehenden Blättern ein flüchtiges Bild entworfen werden. Auch an seinen Boden knüpft sich ein Stück deutscher Ge¬ schichte, auch hier ist der römisch-deutsche Kaiser einst Herr gewesen, aber nur müh¬ sam lassen sich diese Trümmer deutscher Vergangenheit aus dem Schutt, der sie bedeckt, herausgraben. Orientiren wir uns zuvörderst über seine Grenzen und die Bevölkerungsverhältnisse, welche für seine Zukunft bestimmend sein werden. Das ehemalige Großfürstenthum Litthauen, welches die heutigen Gouver¬ nements Grodno, Kowno, Wilna, Minsk, Witepsk umfaßt, zerfiel zu polni¬ scher Zeit in die drei Landschaften Litthauen (Woyewodschaften Wilna und Troll), litthauisch Reußen (Woyewodschaften Schwarzrußland, Weißrußland, Mcisclaw, Witepsk, Smolensk, Polozk und polnisch Livland) und Samo- gitien. Zwei dieser Provinzen, das ehemalige Samogitien und polnisch Livland waren dem Besitz des deutschen Ordens entrissen worden, die erstere beim Beginn des fünfzehnten, die letztere im siebzehnten Jahrhundert. Während die Dura sonst die äußerste Nordgrenze der polnischen Herr¬ schaft bildete, und es den Polen ebenso wenig wie den alten Litthauern ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/290>, abgerufen am 01.07.2024.