Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.Verlorene Posten deutscher Colonisation. 1. Polnisch Livland. "Um Petersburg herum liegt ein weiter Raum, den man gewöhnlich Grenzboten I. 1863. ö6
Verlorene Posten deutscher Colonisation. 1. Polnisch Livland. „Um Petersburg herum liegt ein weiter Raum, den man gewöhnlich Grenzboten I. 1863. ö6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0289" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117293"/> </div> <div n="1"> <head> Verlorene Posten deutscher Colonisation.</head><lb/> <div n="2"> <head> 1. Polnisch Livland.</head><lb/> <p xml:id="ID_751" next="#ID_752"> „Um Petersburg herum liegt ein weiter Raum, den man gewöhnlich<lb/> Rußland nennt". — Dieses boshafte Wort eines „vormärzlichen" russischen<lb/> Schriftstellers enthält die Quintessenz der Vorstellungen, welche sich ein gro¬<lb/> ßer Theil der Bewohner Westeuropas noch heute von dem großen Reich des<lb/> Ostens macht, das hinter den ominösen Schlagbäumen von Wirballen oder<lb/> Tauroggen seinen Anfang nimmt. Was jenseit dieser von Kosaken gehüteten<lb/> schwarz-gelb-weißen Pfähle liegt, bildet selbst für einen großen Theil der<lb/> Deutschen, welche sich rühmen, am besten unter allen Völkern unseres Welt¬<lb/> theils Bescheid zu wissen, eine ununterscheidbare Masse von Ländern und<lb/> Nationen, nach denen zu fragen der Mühe kaum verlohnt: Moskau — Pe¬<lb/> tersburg — das ehemalige Polen — allenfalls noch Kurland — diese Na¬<lb/> men hat man in der Schule gelernt, sie bilden die Oasen innerhalb der<lb/> Wüste, welche man sich unter dem Namen „Rußland" denkt und mit ihnen<lb/> verbinden sich unklare Vorstellungen von weiten, sclavenbewohnten Ebenen,<lb/> aus deren undurchdringlichem Nebel Bajonette und Kuppeln griechischer<lb/> Kirchen blitzen. In früherer Zeit war es anders. Als noch nicht rasende<lb/> Eilzüge, sondern schwerfällige Post- und Diligencewagen den Reisenden in<lb/> fünftägiger Fahrt von Tauroggen über schauten, Mitau, Riga, Dorpat und<lb/> Narwa nach Petersburg führten, hatte der aufmerksame Beobachter Zeit und<lb/> Gelegenheit, wahrzunehmen, daß es eine ganze Anzahl kleiner, von einander<lb/> scharf unterschiedener Welten sei, die er zu durchwandern habe, ehe er an das<lb/> Newaufer kam, und daß die Bezeichnung „Rußland", welche er aus der<lb/> Heimath mitgenommen, auf keine derselben recht paßte. Hatte der Reisende<lb/> irgend Augen und Ohren für ethnographische Unterschiede, so konnte er<lb/> inne werden, daß es drei verschiedene Völkergebiete waren, die an seinem<lb/> Auge vorüberzogen und daß sich, bevor er die Vorstädte Petersburgs berührt,<lb/> in keinem derselben Anzeichen echtrussischen Lebens entdecken ließen. Hier<lb/> waren es Polen und Litthauer, dort Deutsche und Letten, weiter nach Nor¬<lb/> den schwarzröckige Esthen, welche ihm begegneten; die erste Tagereise führte<lb/> ihn an katholischen Kirchen und Kalvarienbergen vorüber, dann reiste er</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1863. ö6</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0289]
Verlorene Posten deutscher Colonisation.
1. Polnisch Livland.
„Um Petersburg herum liegt ein weiter Raum, den man gewöhnlich
Rußland nennt". — Dieses boshafte Wort eines „vormärzlichen" russischen
Schriftstellers enthält die Quintessenz der Vorstellungen, welche sich ein gro¬
ßer Theil der Bewohner Westeuropas noch heute von dem großen Reich des
Ostens macht, das hinter den ominösen Schlagbäumen von Wirballen oder
Tauroggen seinen Anfang nimmt. Was jenseit dieser von Kosaken gehüteten
schwarz-gelb-weißen Pfähle liegt, bildet selbst für einen großen Theil der
Deutschen, welche sich rühmen, am besten unter allen Völkern unseres Welt¬
theils Bescheid zu wissen, eine ununterscheidbare Masse von Ländern und
Nationen, nach denen zu fragen der Mühe kaum verlohnt: Moskau — Pe¬
tersburg — das ehemalige Polen — allenfalls noch Kurland — diese Na¬
men hat man in der Schule gelernt, sie bilden die Oasen innerhalb der
Wüste, welche man sich unter dem Namen „Rußland" denkt und mit ihnen
verbinden sich unklare Vorstellungen von weiten, sclavenbewohnten Ebenen,
aus deren undurchdringlichem Nebel Bajonette und Kuppeln griechischer
Kirchen blitzen. In früherer Zeit war es anders. Als noch nicht rasende
Eilzüge, sondern schwerfällige Post- und Diligencewagen den Reisenden in
fünftägiger Fahrt von Tauroggen über schauten, Mitau, Riga, Dorpat und
Narwa nach Petersburg führten, hatte der aufmerksame Beobachter Zeit und
Gelegenheit, wahrzunehmen, daß es eine ganze Anzahl kleiner, von einander
scharf unterschiedener Welten sei, die er zu durchwandern habe, ehe er an das
Newaufer kam, und daß die Bezeichnung „Rußland", welche er aus der
Heimath mitgenommen, auf keine derselben recht paßte. Hatte der Reisende
irgend Augen und Ohren für ethnographische Unterschiede, so konnte er
inne werden, daß es drei verschiedene Völkergebiete waren, die an seinem
Auge vorüberzogen und daß sich, bevor er die Vorstädte Petersburgs berührt,
in keinem derselben Anzeichen echtrussischen Lebens entdecken ließen. Hier
waren es Polen und Litthauer, dort Deutsche und Letten, weiter nach Nor¬
den schwarzröckige Esthen, welche ihm begegneten; die erste Tagereise führte
ihn an katholischen Kirchen und Kalvarienbergen vorüber, dann reiste er
Grenzboten I. 1863. ö6
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |