Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

deuten Bedürfniß gewonnen werden. Es hat des ganzen Ungeschicks der
offiziösen Journalisten und gewisser reaktionärer Beamtenkreise bedurft, um
eine Verkennung der gegebenen Verhältnisse, wie sie wenigstens vorübergehend
in Cours gesetzt worden war, herbeizuführen und den Feinden Preußens zu
den unsinnigen Parallelen Veranlassung zu geben, welche den Mangel im
deutschen Norden und den Ueberfluß in Oestreich auf die Verschiedenheit der
Regierungssysteme hüben und drüben zurückführten!

Die Sorge um die Nothleidenden in Ostpreußen und die Verhandlungen
über die Abfindung der Depossedirten und den hannoverischen Provinzialfonds
haben so sehr im Vordergrunde des preußischen öffentlichen Lebens gestanden,
daß sich Presse und Publikum nur vorübergehend mit den Beziehungen zum
deutschen Süden und zu Frankreich beschäftigt und den offiziellen Versiche¬
rungen, daß die letzteren nichts zu wünschen übrig ließen, bereitwillig Glauben
geschenkt haben. Selbst das Ableben des verdienstvollsten Vorkämpfers der
deutschen Sache jenseit des Main, des badischen Staats- und Finanzministers
Mathy, der den hervorragendsten Antheil an dem Zustandekommen der
Zoll- und Allicmceverträge gehabt hat und dessen Ausbleiben der Bundesrath
beim Zollparlament schmerzlich genug empfinden wird, ist nicht im Stande
gewesen, die Versenkung in die Sorgen des Augenblicks zu unterbrechen und
die Beschäftigung mit der süddeutschen Frage in Fluß zu bringen. In gewissen
Kreisen ist man gar so weit gegangen, aus den Schwierigkeiten, welche sich der
Organisation im Norden entgegengestellt haben, auf die momentane Unlös-
barkeit der im Süden harrenden Aufgabe und den Mangel genügender Ar¬
beitskräfte für dieselbe Schlüsse zu ziehen. So wenig wir im Stande sind,
den Glauben an die Möglichkeit längerer Fortdauer der süddeutschen Pro¬
visorien zu theilen, so klar uns zu Tage liegt, daß es die Rücksicht auf den
Süden ist, welche die Bethätigung der vollen Bundesautorität auf die
Regierungen der kleinen Bundesstaaten hemmt, und so unwahrscheinlich es
aussieht, daß die ausgegebene Losung: "Erst Bayern, dann Baden" aufrecht
erhalten werden wird -- wir können uns nur des Ernsts und der Gewissen¬
haftigkeit freuen, mit welchem von Berlin aus auf den Revers der Medaille
hingewiesen und mit jenem Optimismus gebrochen wird, der bis in den
vorigen Sommer hinein dem Wahn huldigte, die Überschreitung der Main¬
linie werde sich von selbst machen. Die richtige Einsicht in die wahre Sach¬
lage und ihre inneren Hemmnisse scheint in demselben Maße zuzunehmen, in
welchem die Befürchtungen vor einer französischen Einmischung in die deutschen
Dinge in den Hintergrund tritt; war es doch bequem genug gewesen, immer
wieder diese vorzuschieben, statt einzugestehen, daß in Wahrheit der Mangel
guten Willens im Süden und eines gehörigen Ueberschusses an Organisations¬
kräften im Norden die Herstellung der Brücke über den Main verzögerten!


deuten Bedürfniß gewonnen werden. Es hat des ganzen Ungeschicks der
offiziösen Journalisten und gewisser reaktionärer Beamtenkreise bedurft, um
eine Verkennung der gegebenen Verhältnisse, wie sie wenigstens vorübergehend
in Cours gesetzt worden war, herbeizuführen und den Feinden Preußens zu
den unsinnigen Parallelen Veranlassung zu geben, welche den Mangel im
deutschen Norden und den Ueberfluß in Oestreich auf die Verschiedenheit der
Regierungssysteme hüben und drüben zurückführten!

Die Sorge um die Nothleidenden in Ostpreußen und die Verhandlungen
über die Abfindung der Depossedirten und den hannoverischen Provinzialfonds
haben so sehr im Vordergrunde des preußischen öffentlichen Lebens gestanden,
daß sich Presse und Publikum nur vorübergehend mit den Beziehungen zum
deutschen Süden und zu Frankreich beschäftigt und den offiziellen Versiche¬
rungen, daß die letzteren nichts zu wünschen übrig ließen, bereitwillig Glauben
geschenkt haben. Selbst das Ableben des verdienstvollsten Vorkämpfers der
deutschen Sache jenseit des Main, des badischen Staats- und Finanzministers
Mathy, der den hervorragendsten Antheil an dem Zustandekommen der
Zoll- und Allicmceverträge gehabt hat und dessen Ausbleiben der Bundesrath
beim Zollparlament schmerzlich genug empfinden wird, ist nicht im Stande
gewesen, die Versenkung in die Sorgen des Augenblicks zu unterbrechen und
die Beschäftigung mit der süddeutschen Frage in Fluß zu bringen. In gewissen
Kreisen ist man gar so weit gegangen, aus den Schwierigkeiten, welche sich der
Organisation im Norden entgegengestellt haben, auf die momentane Unlös-
barkeit der im Süden harrenden Aufgabe und den Mangel genügender Ar¬
beitskräfte für dieselbe Schlüsse zu ziehen. So wenig wir im Stande sind,
den Glauben an die Möglichkeit längerer Fortdauer der süddeutschen Pro¬
visorien zu theilen, so klar uns zu Tage liegt, daß es die Rücksicht auf den
Süden ist, welche die Bethätigung der vollen Bundesautorität auf die
Regierungen der kleinen Bundesstaaten hemmt, und so unwahrscheinlich es
aussieht, daß die ausgegebene Losung: „Erst Bayern, dann Baden" aufrecht
erhalten werden wird — wir können uns nur des Ernsts und der Gewissen¬
haftigkeit freuen, mit welchem von Berlin aus auf den Revers der Medaille
hingewiesen und mit jenem Optimismus gebrochen wird, der bis in den
vorigen Sommer hinein dem Wahn huldigte, die Überschreitung der Main¬
linie werde sich von selbst machen. Die richtige Einsicht in die wahre Sach¬
lage und ihre inneren Hemmnisse scheint in demselben Maße zuzunehmen, in
welchem die Befürchtungen vor einer französischen Einmischung in die deutschen
Dinge in den Hintergrund tritt; war es doch bequem genug gewesen, immer
wieder diese vorzuschieben, statt einzugestehen, daß in Wahrheit der Mangel
guten Willens im Süden und eines gehörigen Ueberschusses an Organisations¬
kräften im Norden die Herstellung der Brücke über den Main verzögerten!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117291"/>
          <p xml:id="ID_747" prev="#ID_746"> deuten Bedürfniß gewonnen werden. Es hat des ganzen Ungeschicks der<lb/>
offiziösen Journalisten und gewisser reaktionärer Beamtenkreise bedurft, um<lb/>
eine Verkennung der gegebenen Verhältnisse, wie sie wenigstens vorübergehend<lb/>
in Cours gesetzt worden war, herbeizuführen und den Feinden Preußens zu<lb/>
den unsinnigen Parallelen Veranlassung zu geben, welche den Mangel im<lb/>
deutschen Norden und den Ueberfluß in Oestreich auf die Verschiedenheit der<lb/>
Regierungssysteme hüben und drüben zurückführten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_748" next="#ID_749"> Die Sorge um die Nothleidenden in Ostpreußen und die Verhandlungen<lb/>
über die Abfindung der Depossedirten und den hannoverischen Provinzialfonds<lb/>
haben so sehr im Vordergrunde des preußischen öffentlichen Lebens gestanden,<lb/>
daß sich Presse und Publikum nur vorübergehend mit den Beziehungen zum<lb/>
deutschen Süden und zu Frankreich beschäftigt und den offiziellen Versiche¬<lb/>
rungen, daß die letzteren nichts zu wünschen übrig ließen, bereitwillig Glauben<lb/>
geschenkt haben.  Selbst das Ableben des verdienstvollsten Vorkämpfers der<lb/>
deutschen Sache jenseit des Main, des badischen Staats- und Finanzministers<lb/>
Mathy, der den hervorragendsten Antheil an dem Zustandekommen der<lb/>
Zoll- und Allicmceverträge gehabt hat und dessen Ausbleiben der Bundesrath<lb/>
beim Zollparlament schmerzlich genug empfinden wird, ist nicht im Stande<lb/>
gewesen, die Versenkung in die Sorgen des Augenblicks zu unterbrechen und<lb/>
die Beschäftigung mit der süddeutschen Frage in Fluß zu bringen. In gewissen<lb/>
Kreisen ist man gar so weit gegangen, aus den Schwierigkeiten, welche sich der<lb/>
Organisation im Norden entgegengestellt haben, auf die momentane Unlös-<lb/>
barkeit der im Süden harrenden Aufgabe und den Mangel genügender Ar¬<lb/>
beitskräfte für dieselbe Schlüsse zu ziehen.  So wenig wir im Stande sind,<lb/>
den Glauben an die Möglichkeit längerer Fortdauer der süddeutschen Pro¬<lb/>
visorien zu theilen, so klar uns zu Tage liegt, daß es die Rücksicht auf den<lb/>
Süden ist, welche die Bethätigung der vollen Bundesautorität auf die<lb/>
Regierungen der kleinen Bundesstaaten hemmt, und so unwahrscheinlich es<lb/>
aussieht, daß die ausgegebene Losung: &#x201E;Erst Bayern, dann Baden" aufrecht<lb/>
erhalten werden wird &#x2014; wir können uns nur des Ernsts und der Gewissen¬<lb/>
haftigkeit freuen, mit welchem von Berlin aus auf den Revers der Medaille<lb/>
hingewiesen und mit jenem Optimismus gebrochen wird, der bis in den<lb/>
vorigen Sommer hinein dem Wahn huldigte, die Überschreitung der Main¬<lb/>
linie werde sich von selbst machen. Die richtige Einsicht in die wahre Sach¬<lb/>
lage und ihre inneren Hemmnisse scheint in demselben Maße zuzunehmen, in<lb/>
welchem die Befürchtungen vor einer französischen Einmischung in die deutschen<lb/>
Dinge in den Hintergrund tritt; war es doch bequem genug gewesen, immer<lb/>
wieder diese vorzuschieben, statt einzugestehen, daß in Wahrheit der Mangel<lb/>
guten Willens im Süden und eines gehörigen Ueberschusses an Organisations¬<lb/>
kräften im Norden die Herstellung der Brücke über den Main verzögerten!</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] deuten Bedürfniß gewonnen werden. Es hat des ganzen Ungeschicks der offiziösen Journalisten und gewisser reaktionärer Beamtenkreise bedurft, um eine Verkennung der gegebenen Verhältnisse, wie sie wenigstens vorübergehend in Cours gesetzt worden war, herbeizuführen und den Feinden Preußens zu den unsinnigen Parallelen Veranlassung zu geben, welche den Mangel im deutschen Norden und den Ueberfluß in Oestreich auf die Verschiedenheit der Regierungssysteme hüben und drüben zurückführten! Die Sorge um die Nothleidenden in Ostpreußen und die Verhandlungen über die Abfindung der Depossedirten und den hannoverischen Provinzialfonds haben so sehr im Vordergrunde des preußischen öffentlichen Lebens gestanden, daß sich Presse und Publikum nur vorübergehend mit den Beziehungen zum deutschen Süden und zu Frankreich beschäftigt und den offiziellen Versiche¬ rungen, daß die letzteren nichts zu wünschen übrig ließen, bereitwillig Glauben geschenkt haben. Selbst das Ableben des verdienstvollsten Vorkämpfers der deutschen Sache jenseit des Main, des badischen Staats- und Finanzministers Mathy, der den hervorragendsten Antheil an dem Zustandekommen der Zoll- und Allicmceverträge gehabt hat und dessen Ausbleiben der Bundesrath beim Zollparlament schmerzlich genug empfinden wird, ist nicht im Stande gewesen, die Versenkung in die Sorgen des Augenblicks zu unterbrechen und die Beschäftigung mit der süddeutschen Frage in Fluß zu bringen. In gewissen Kreisen ist man gar so weit gegangen, aus den Schwierigkeiten, welche sich der Organisation im Norden entgegengestellt haben, auf die momentane Unlös- barkeit der im Süden harrenden Aufgabe und den Mangel genügender Ar¬ beitskräfte für dieselbe Schlüsse zu ziehen. So wenig wir im Stande sind, den Glauben an die Möglichkeit längerer Fortdauer der süddeutschen Pro¬ visorien zu theilen, so klar uns zu Tage liegt, daß es die Rücksicht auf den Süden ist, welche die Bethätigung der vollen Bundesautorität auf die Regierungen der kleinen Bundesstaaten hemmt, und so unwahrscheinlich es aussieht, daß die ausgegebene Losung: „Erst Bayern, dann Baden" aufrecht erhalten werden wird — wir können uns nur des Ernsts und der Gewissen¬ haftigkeit freuen, mit welchem von Berlin aus auf den Revers der Medaille hingewiesen und mit jenem Optimismus gebrochen wird, der bis in den vorigen Sommer hinein dem Wahn huldigte, die Überschreitung der Main¬ linie werde sich von selbst machen. Die richtige Einsicht in die wahre Sach¬ lage und ihre inneren Hemmnisse scheint in demselben Maße zuzunehmen, in welchem die Befürchtungen vor einer französischen Einmischung in die deutschen Dinge in den Hintergrund tritt; war es doch bequem genug gewesen, immer wieder diese vorzuschieben, statt einzugestehen, daß in Wahrheit der Mangel guten Willens im Süden und eines gehörigen Ueberschusses an Organisations¬ kräften im Norden die Herstellung der Brücke über den Main verzögerten!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/287>, abgerufen am 22.07.2024.