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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Freilich haben wir ein nur sehr beschränktes Recht, überwiese Thorheiten
des russischen Parteifancitismus vornehm abzuurtheilen: gibt es doch auch in
Deutschland eine zahlreiche, in der Presse mehrfach vertretene Partei, welche
den Lenkern des preußischen Staats ohne weiteres alle Schuld an dem
Nothstand in Ostpreußen zumißt und die eigentliche Ursache desselben in dem
Kriege von 1866 und der Erhöhung der preußischen Wehrkraft sucht. Die
Neigung, in jeder Kalamität, mag sie politischer, socialer oder wirthschaft-
licher Natur sein, alles Heil von der Regierung zu erwarten und diese für
alles, was geschieht und nicht geschieht, verantwortlich zu machen, ist eines der
charakteristischsten Symptome dafür, daß man auch bei uns die Periode des
staatlichen Bevormundungsbedürfnisses noch lange nicht überwunden hat und
daß der Besitz constitutioneller Institutionen schlechterdings keinen Ersatz bietet
für den Mangel communaler und provinzialer Selbstverwaltung. Im vor¬
liegenden Fall hat sich übrigens gezeigt, daß der Glaube an die Allgewalt'und
Allverantwortlichkeit des Staats ebenso bei gewissen Regierungsorganen, wie
bei den radicalen Politikern der "Zukunft" zu Hause ist; die officiöse berliner
Presse hat geflissentlich die Thatsache des Nothstands zu leugnen oder doch
zu verkleinern versucht und sich gerade so geberdet, als ob das Vorhanden¬
sein eines solchen in der That zu Vorwürfen gegen die Regierung berechtigen
würde. Und um die Begriffsverwirrung vollends zu steigern, ist von der¬
selben Seite her behauptet worden, der vielfach und mit Recht erhobene An¬
spruch auf staatliche Beihilfe zur Linderung des ostpreußischen Elends sei,
insoweit er von den Liberalen erhoben worden, eine Inconsequenz, da der Li¬
beralismus jede Betheiligung des Staats an socialen und wirthschaftlichen
Fragen prinzipiell verwerfe und nur das Prinzip der Selbsthilfe und der
natürlichen Ausgleichung zulasse. Glücklicherweise haben diese Ausgeburten
doktrinärer Rechthaberei den gesunden Sinn des Volks nicht zu trüben ver¬
mocht; die verschiedenen Staaten und Bevölkerungsgruppen des gesammten
Deutschland wetteifern in opferfreudigem Sinn für die Unterstützung der
schwergeprüften Provinz an der preußischen Ostgrenze. Niemand kommt es
in den Sinn, die Hungersnoth an der Ostsee zur Basis wirthschaftlicher oder
politischer Experimente zu machen und an den Grundpfeilern staatlichen Le¬
bens rütteln zu wollen. Allen, die den Verhältnissen näher stehen, ist frei-
lich bekannt, daß der Regierung mangelhafte Aufmerksamkeit für die Ernte¬
verhältnisse in Ostpreußen um so weniger zum Vorwurf gemacht werden
kann, als selbst die Mehrzahl der mit Land und Leuten genau bekannten Grund¬
besitzer noch im vorigen October des Glaubens war, der magere Ausfall der
Ernte werde zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse ausreichen; und konnte
doch auch erst nach Beendigung der Drescharbeiten eine Uebersicht über den ganzen
Umfang der Differenz zwischen den vorhandenen Vorräthen und dem obwal"


Freilich haben wir ein nur sehr beschränktes Recht, überwiese Thorheiten
des russischen Parteifancitismus vornehm abzuurtheilen: gibt es doch auch in
Deutschland eine zahlreiche, in der Presse mehrfach vertretene Partei, welche
den Lenkern des preußischen Staats ohne weiteres alle Schuld an dem
Nothstand in Ostpreußen zumißt und die eigentliche Ursache desselben in dem
Kriege von 1866 und der Erhöhung der preußischen Wehrkraft sucht. Die
Neigung, in jeder Kalamität, mag sie politischer, socialer oder wirthschaft-
licher Natur sein, alles Heil von der Regierung zu erwarten und diese für
alles, was geschieht und nicht geschieht, verantwortlich zu machen, ist eines der
charakteristischsten Symptome dafür, daß man auch bei uns die Periode des
staatlichen Bevormundungsbedürfnisses noch lange nicht überwunden hat und
daß der Besitz constitutioneller Institutionen schlechterdings keinen Ersatz bietet
für den Mangel communaler und provinzialer Selbstverwaltung. Im vor¬
liegenden Fall hat sich übrigens gezeigt, daß der Glaube an die Allgewalt'und
Allverantwortlichkeit des Staats ebenso bei gewissen Regierungsorganen, wie
bei den radicalen Politikern der „Zukunft" zu Hause ist; die officiöse berliner
Presse hat geflissentlich die Thatsache des Nothstands zu leugnen oder doch
zu verkleinern versucht und sich gerade so geberdet, als ob das Vorhanden¬
sein eines solchen in der That zu Vorwürfen gegen die Regierung berechtigen
würde. Und um die Begriffsverwirrung vollends zu steigern, ist von der¬
selben Seite her behauptet worden, der vielfach und mit Recht erhobene An¬
spruch auf staatliche Beihilfe zur Linderung des ostpreußischen Elends sei,
insoweit er von den Liberalen erhoben worden, eine Inconsequenz, da der Li¬
beralismus jede Betheiligung des Staats an socialen und wirthschaftlichen
Fragen prinzipiell verwerfe und nur das Prinzip der Selbsthilfe und der
natürlichen Ausgleichung zulasse. Glücklicherweise haben diese Ausgeburten
doktrinärer Rechthaberei den gesunden Sinn des Volks nicht zu trüben ver¬
mocht; die verschiedenen Staaten und Bevölkerungsgruppen des gesammten
Deutschland wetteifern in opferfreudigem Sinn für die Unterstützung der
schwergeprüften Provinz an der preußischen Ostgrenze. Niemand kommt es
in den Sinn, die Hungersnoth an der Ostsee zur Basis wirthschaftlicher oder
politischer Experimente zu machen und an den Grundpfeilern staatlichen Le¬
bens rütteln zu wollen. Allen, die den Verhältnissen näher stehen, ist frei-
lich bekannt, daß der Regierung mangelhafte Aufmerksamkeit für die Ernte¬
verhältnisse in Ostpreußen um so weniger zum Vorwurf gemacht werden
kann, als selbst die Mehrzahl der mit Land und Leuten genau bekannten Grund¬
besitzer noch im vorigen October des Glaubens war, der magere Ausfall der
Ernte werde zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse ausreichen; und konnte
doch auch erst nach Beendigung der Drescharbeiten eine Uebersicht über den ganzen
Umfang der Differenz zwischen den vorhandenen Vorräthen und dem obwal»


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[0286] Freilich haben wir ein nur sehr beschränktes Recht, überwiese Thorheiten des russischen Parteifancitismus vornehm abzuurtheilen: gibt es doch auch in Deutschland eine zahlreiche, in der Presse mehrfach vertretene Partei, welche den Lenkern des preußischen Staats ohne weiteres alle Schuld an dem Nothstand in Ostpreußen zumißt und die eigentliche Ursache desselben in dem Kriege von 1866 und der Erhöhung der preußischen Wehrkraft sucht. Die Neigung, in jeder Kalamität, mag sie politischer, socialer oder wirthschaft- licher Natur sein, alles Heil von der Regierung zu erwarten und diese für alles, was geschieht und nicht geschieht, verantwortlich zu machen, ist eines der charakteristischsten Symptome dafür, daß man auch bei uns die Periode des staatlichen Bevormundungsbedürfnisses noch lange nicht überwunden hat und daß der Besitz constitutioneller Institutionen schlechterdings keinen Ersatz bietet für den Mangel communaler und provinzialer Selbstverwaltung. Im vor¬ liegenden Fall hat sich übrigens gezeigt, daß der Glaube an die Allgewalt'und Allverantwortlichkeit des Staats ebenso bei gewissen Regierungsorganen, wie bei den radicalen Politikern der „Zukunft" zu Hause ist; die officiöse berliner Presse hat geflissentlich die Thatsache des Nothstands zu leugnen oder doch zu verkleinern versucht und sich gerade so geberdet, als ob das Vorhanden¬ sein eines solchen in der That zu Vorwürfen gegen die Regierung berechtigen würde. Und um die Begriffsverwirrung vollends zu steigern, ist von der¬ selben Seite her behauptet worden, der vielfach und mit Recht erhobene An¬ spruch auf staatliche Beihilfe zur Linderung des ostpreußischen Elends sei, insoweit er von den Liberalen erhoben worden, eine Inconsequenz, da der Li¬ beralismus jede Betheiligung des Staats an socialen und wirthschaftlichen Fragen prinzipiell verwerfe und nur das Prinzip der Selbsthilfe und der natürlichen Ausgleichung zulasse. Glücklicherweise haben diese Ausgeburten doktrinärer Rechthaberei den gesunden Sinn des Volks nicht zu trüben ver¬ mocht; die verschiedenen Staaten und Bevölkerungsgruppen des gesammten Deutschland wetteifern in opferfreudigem Sinn für die Unterstützung der schwergeprüften Provinz an der preußischen Ostgrenze. Niemand kommt es in den Sinn, die Hungersnoth an der Ostsee zur Basis wirthschaftlicher oder politischer Experimente zu machen und an den Grundpfeilern staatlichen Le¬ bens rütteln zu wollen. Allen, die den Verhältnissen näher stehen, ist frei- lich bekannt, daß der Regierung mangelhafte Aufmerksamkeit für die Ernte¬ verhältnisse in Ostpreußen um so weniger zum Vorwurf gemacht werden kann, als selbst die Mehrzahl der mit Land und Leuten genau bekannten Grund¬ besitzer noch im vorigen October des Glaubens war, der magere Ausfall der Ernte werde zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse ausreichen; und konnte doch auch erst nach Beendigung der Drescharbeiten eine Uebersicht über den ganzen Umfang der Differenz zwischen den vorhandenen Vorräthen und dem obwal»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/286>, abgerufen am 22.07.2024.