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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Systems, nach Welchem die Verlegung des politischen Gerichts in die unteren
Classen eine Panacee gegen alle überkommenen Uebel sein sollte, ernsthafterer
Prüfung zu unterziehen. Sehr bedeutsam ist in dieser Beziehung ein neuer¬
dings von dem landständischen Ausschuß des Gouvernement Twer veröffent¬
lichter Bericht über die Ursachen der Abnahme der Produktion, die Vermin¬
derung der bebauten Territorien und des Viehstandes in der gedachten Pro¬
vinz und deren Umgebung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß
(wie ein uns aus Petersburg zugegangener Bericht wissen will) in den Peters¬
burger Regierungskreisen von dem Erlaß einer Vorschrift die Rede sei, welche
die Bauern zur Bestellung eines Theils ihrer Grundstücke förmlich verpflich¬
ten soll. Ob das neuerdings in Se. Petersburg niedergesetzte Comite zur
Abhilfe des furchtbaren Elends in Litthauen, den Nord- und Centralprovinzen
im Stande sein wird, der diesjährigen Hungersnoth wirksam zu begegnen,
kann bei den ungeheuern Entfernungen und dem immer noch primären Zu¬
stande der Eommunicationsmittel Rußlands zweifelhaft erscheinen; tritt aber
wirklich eine dauernde Reaction gegen den leichtfertigen Optimismus ein,
mit welchem die moskauer Demokratie die wirthschaftliche Lage .beurtheilt
und einer Ochlokratie in die Hände gearbeitet hatte, welcher die Aufgabe
zugedacht worden war, den Einfluß der aufgeklärten Classen und der europäi¬
schen Bildung mit Hilfe des Gemeindebesitzes zu brechen, -- so ist der Vor¬
theil, den der Nothstand des laufenden Winters gebracht, ohne Zweifel grö¬
ßer als der Schaden, welchen derselbe angerichtet hat. Wie tiefgewurzelt der
Glaube an die Unfehlbarkeit der demokratischen Modephrasen noch gegenwär¬
tig in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft ist und wie dringend es
einer Reaction gegen denselben bedarf, hat sich noch in den letzten Tagen in
eclatantester Weise gezeigt. -- Bekanntlich ist die Justiz in dem größten Theile
Rußlands bereits reorganisirt worden und trägt die Regierung sich mit der
Absicht, auch die Rechtspflege im Königreich Polen umzugestalten. Das Co¬
mite, welches mit der Ausarbeitung der bezüglichen Vorlagen betraut ist,
wird von der demokratischen Presse mit Warnungen bestürmt, jede Theil¬
nahme der höhern Classen an der Ausübung der Justiz nach Kräften aus¬
zuschließen und die ländliche Rechtspflege nicht Friedensrichtern, sondern von
den Bauerngemeinden gewählten Gemeindegerichten zu übertragen und da¬
durch das demokratische Prinzip zu stärken. Und dieselbe Presse, welche mit
Irrlehren so ausschweifender Art der Lösung aller staatlichen und sittlichen
Bande entgegengesteuerte, systematisch eine politische und wirthschaftliche Be¬
griffsverwirrung über die Ausgabe der ländlichen Bevölkerung herbeigeführt
hat, die ohne Beispiel in der neuesten Geschichte ist, diese selbe Presse nimmt
keinen Anstand, die Verantwortlichkeit für die Ungunst der Natur und den
Unverstand der ländlichen Arbeiter auf die Regierung zu wälzen!


Systems, nach Welchem die Verlegung des politischen Gerichts in die unteren
Classen eine Panacee gegen alle überkommenen Uebel sein sollte, ernsthafterer
Prüfung zu unterziehen. Sehr bedeutsam ist in dieser Beziehung ein neuer¬
dings von dem landständischen Ausschuß des Gouvernement Twer veröffent¬
lichter Bericht über die Ursachen der Abnahme der Produktion, die Vermin¬
derung der bebauten Territorien und des Viehstandes in der gedachten Pro¬
vinz und deren Umgebung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß
(wie ein uns aus Petersburg zugegangener Bericht wissen will) in den Peters¬
burger Regierungskreisen von dem Erlaß einer Vorschrift die Rede sei, welche
die Bauern zur Bestellung eines Theils ihrer Grundstücke förmlich verpflich¬
ten soll. Ob das neuerdings in Se. Petersburg niedergesetzte Comite zur
Abhilfe des furchtbaren Elends in Litthauen, den Nord- und Centralprovinzen
im Stande sein wird, der diesjährigen Hungersnoth wirksam zu begegnen,
kann bei den ungeheuern Entfernungen und dem immer noch primären Zu¬
stande der Eommunicationsmittel Rußlands zweifelhaft erscheinen; tritt aber
wirklich eine dauernde Reaction gegen den leichtfertigen Optimismus ein,
mit welchem die moskauer Demokratie die wirthschaftliche Lage .beurtheilt
und einer Ochlokratie in die Hände gearbeitet hatte, welcher die Aufgabe
zugedacht worden war, den Einfluß der aufgeklärten Classen und der europäi¬
schen Bildung mit Hilfe des Gemeindebesitzes zu brechen, — so ist der Vor¬
theil, den der Nothstand des laufenden Winters gebracht, ohne Zweifel grö¬
ßer als der Schaden, welchen derselbe angerichtet hat. Wie tiefgewurzelt der
Glaube an die Unfehlbarkeit der demokratischen Modephrasen noch gegenwär¬
tig in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft ist und wie dringend es
einer Reaction gegen denselben bedarf, hat sich noch in den letzten Tagen in
eclatantester Weise gezeigt. — Bekanntlich ist die Justiz in dem größten Theile
Rußlands bereits reorganisirt worden und trägt die Regierung sich mit der
Absicht, auch die Rechtspflege im Königreich Polen umzugestalten. Das Co¬
mite, welches mit der Ausarbeitung der bezüglichen Vorlagen betraut ist,
wird von der demokratischen Presse mit Warnungen bestürmt, jede Theil¬
nahme der höhern Classen an der Ausübung der Justiz nach Kräften aus¬
zuschließen und die ländliche Rechtspflege nicht Friedensrichtern, sondern von
den Bauerngemeinden gewählten Gemeindegerichten zu übertragen und da¬
durch das demokratische Prinzip zu stärken. Und dieselbe Presse, welche mit
Irrlehren so ausschweifender Art der Lösung aller staatlichen und sittlichen
Bande entgegengesteuerte, systematisch eine politische und wirthschaftliche Be¬
griffsverwirrung über die Ausgabe der ländlichen Bevölkerung herbeigeführt
hat, die ohne Beispiel in der neuesten Geschichte ist, diese selbe Presse nimmt
keinen Anstand, die Verantwortlichkeit für die Ungunst der Natur und den
Unverstand der ländlichen Arbeiter auf die Regierung zu wälzen!


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[0285] Systems, nach Welchem die Verlegung des politischen Gerichts in die unteren Classen eine Panacee gegen alle überkommenen Uebel sein sollte, ernsthafterer Prüfung zu unterziehen. Sehr bedeutsam ist in dieser Beziehung ein neuer¬ dings von dem landständischen Ausschuß des Gouvernement Twer veröffent¬ lichter Bericht über die Ursachen der Abnahme der Produktion, die Vermin¬ derung der bebauten Territorien und des Viehstandes in der gedachten Pro¬ vinz und deren Umgebung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß (wie ein uns aus Petersburg zugegangener Bericht wissen will) in den Peters¬ burger Regierungskreisen von dem Erlaß einer Vorschrift die Rede sei, welche die Bauern zur Bestellung eines Theils ihrer Grundstücke förmlich verpflich¬ ten soll. Ob das neuerdings in Se. Petersburg niedergesetzte Comite zur Abhilfe des furchtbaren Elends in Litthauen, den Nord- und Centralprovinzen im Stande sein wird, der diesjährigen Hungersnoth wirksam zu begegnen, kann bei den ungeheuern Entfernungen und dem immer noch primären Zu¬ stande der Eommunicationsmittel Rußlands zweifelhaft erscheinen; tritt aber wirklich eine dauernde Reaction gegen den leichtfertigen Optimismus ein, mit welchem die moskauer Demokratie die wirthschaftliche Lage .beurtheilt und einer Ochlokratie in die Hände gearbeitet hatte, welcher die Aufgabe zugedacht worden war, den Einfluß der aufgeklärten Classen und der europäi¬ schen Bildung mit Hilfe des Gemeindebesitzes zu brechen, — so ist der Vor¬ theil, den der Nothstand des laufenden Winters gebracht, ohne Zweifel grö¬ ßer als der Schaden, welchen derselbe angerichtet hat. Wie tiefgewurzelt der Glaube an die Unfehlbarkeit der demokratischen Modephrasen noch gegenwär¬ tig in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft ist und wie dringend es einer Reaction gegen denselben bedarf, hat sich noch in den letzten Tagen in eclatantester Weise gezeigt. — Bekanntlich ist die Justiz in dem größten Theile Rußlands bereits reorganisirt worden und trägt die Regierung sich mit der Absicht, auch die Rechtspflege im Königreich Polen umzugestalten. Das Co¬ mite, welches mit der Ausarbeitung der bezüglichen Vorlagen betraut ist, wird von der demokratischen Presse mit Warnungen bestürmt, jede Theil¬ nahme der höhern Classen an der Ausübung der Justiz nach Kräften aus¬ zuschließen und die ländliche Rechtspflege nicht Friedensrichtern, sondern von den Bauerngemeinden gewählten Gemeindegerichten zu übertragen und da¬ durch das demokratische Prinzip zu stärken. Und dieselbe Presse, welche mit Irrlehren so ausschweifender Art der Lösung aller staatlichen und sittlichen Bande entgegengesteuerte, systematisch eine politische und wirthschaftliche Be¬ griffsverwirrung über die Ausgabe der ländlichen Bevölkerung herbeigeführt hat, die ohne Beispiel in der neuesten Geschichte ist, diese selbe Presse nimmt keinen Anstand, die Verantwortlichkeit für die Ungunst der Natur und den Unverstand der ländlichen Arbeiter auf die Regierung zu wälzen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/285>, abgerufen am 03.07.2024.