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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Herausforderungen gegen den Westen erfüllt waren, beginnen der schwierigen
wirthschaftlichen Lage der großen östlichen Monarchie aufmerksamere Theil¬
nahme zu widmen. Indeß die offizielle und offiziöse Presse Petersburgs
bemüht ist, die aus der feindlichen Haltung Rußlands in der orientalischen
Frage gezogenen Schlüsse auf eine Erkaltung der russisch-preußischen Be¬
ziehungen Lügen zu strafen und die Leichtfertigkeit zu beklagen, mit welcher
die Moskaner Nationalpartei dem Gerede von einer Jsolirung Rußlands Vor¬
schub geleistet hatte, häufen sich die Nachrichten über die furchtbaren Folgen
des Mißwachses im Herbst 1867. Nicht nur in Finnland und in den Preußen
benachbarten Theilen Litthauens, auch in den centralen Provinzen Twer,
Tambow, Njäsan, Tula und Orel und an den eisigen Ufern der Dwina¬
mündung sind die vorhandenen Getreidevorräthe beinahe vollständig auf¬
gezehrt und fragen Hunderttausende von Menschen, womit sie sich selbst, ihre
Kinder und ihr Vieh satt machen, wo die Mittel zur Bestreitung der Aus¬
saat des kommenden Frühjahrs herkommen sollen. Zum erstenmal seit Aus¬
hebung der Leibeigenschaft tauchen Stimmen auf, welche offen eingestehen,
daß die wirthschaftlichen Folgen des berühmten Gesetzes vom 19. Febr. 1861
keineswegs verwunden sind und daß die Abnahme der Production mit der
der ländlichen Bevölkerung ertheilten Freiheit in verhängnißvollen Zusam¬
menhange steht. Der des herrschaftlichen Drucks ledig gewordene Bauer
begnügt sich mit einem Minimum von Arbeit, macht von seiner Freiheit den
vornehmlichsten Gebrauch in den Schenken und läßt in vielen Fällen einen
beträchtlichen Bruchtheil seiner Aecker unbestellt. Der Gutsbesitzer ist überall,
wo seine ehemaligen Leibeigenen ihre Frohncontracte in Geldpachtverträge
verwandelten, aus die Anmiethung von Tagelöhnern angewiesen, die, wenn
überhaupt, nur zu unerschwinglichen hohen Preisen zu haben sind und
bei dem Mangel wirksamer Zucht und Controlle den Haupttheil der über¬
nommenen Verpflichtungen unerfüllt lassen. Die Selbstverwaltung der
von allen gutsherrlichen Einflüssen emancipirten Gemeinden führt viel¬
fach Anarchie und Gesetzlosigkeit im Gefolge, zumal der Eifer des jungen
liberalen Adels für Uebernahme der Friedensrichterposten abgekühlt,->und ein
Theil derselben bereits in die Hände gewissenloser Bureaukraten der alten Schule
gefallen ist. Von mehr wie eitler Seite her war seit Jahr und Tag über
Zerrüttung der ländlichen Polizei, Verfall der Wege und Communications-
mittel, Zuchtlosigkeit, Liederlichkeit und Trägheit des Landvolks geklagt wor-
den; selbst die Moskaner Zeitung hatte diesen Beschwerden ihr Ohr nicht
ganz verschließen können. Aber erst seit die Ungunst der Natur das durch
den Unverstand der Menschen verschuldete Uebel über sein gewöhnliches Maß
hinaus vergrößert hat, zeigt die russische Nationalpartei Neigung und Fähig¬
keit, auf die Wurzel des Unheils zurückzugehen und die Unfehlbarkeit jenes


Herausforderungen gegen den Westen erfüllt waren, beginnen der schwierigen
wirthschaftlichen Lage der großen östlichen Monarchie aufmerksamere Theil¬
nahme zu widmen. Indeß die offizielle und offiziöse Presse Petersburgs
bemüht ist, die aus der feindlichen Haltung Rußlands in der orientalischen
Frage gezogenen Schlüsse auf eine Erkaltung der russisch-preußischen Be¬
ziehungen Lügen zu strafen und die Leichtfertigkeit zu beklagen, mit welcher
die Moskaner Nationalpartei dem Gerede von einer Jsolirung Rußlands Vor¬
schub geleistet hatte, häufen sich die Nachrichten über die furchtbaren Folgen
des Mißwachses im Herbst 1867. Nicht nur in Finnland und in den Preußen
benachbarten Theilen Litthauens, auch in den centralen Provinzen Twer,
Tambow, Njäsan, Tula und Orel und an den eisigen Ufern der Dwina¬
mündung sind die vorhandenen Getreidevorräthe beinahe vollständig auf¬
gezehrt und fragen Hunderttausende von Menschen, womit sie sich selbst, ihre
Kinder und ihr Vieh satt machen, wo die Mittel zur Bestreitung der Aus¬
saat des kommenden Frühjahrs herkommen sollen. Zum erstenmal seit Aus¬
hebung der Leibeigenschaft tauchen Stimmen auf, welche offen eingestehen,
daß die wirthschaftlichen Folgen des berühmten Gesetzes vom 19. Febr. 1861
keineswegs verwunden sind und daß die Abnahme der Production mit der
der ländlichen Bevölkerung ertheilten Freiheit in verhängnißvollen Zusam¬
menhange steht. Der des herrschaftlichen Drucks ledig gewordene Bauer
begnügt sich mit einem Minimum von Arbeit, macht von seiner Freiheit den
vornehmlichsten Gebrauch in den Schenken und läßt in vielen Fällen einen
beträchtlichen Bruchtheil seiner Aecker unbestellt. Der Gutsbesitzer ist überall,
wo seine ehemaligen Leibeigenen ihre Frohncontracte in Geldpachtverträge
verwandelten, aus die Anmiethung von Tagelöhnern angewiesen, die, wenn
überhaupt, nur zu unerschwinglichen hohen Preisen zu haben sind und
bei dem Mangel wirksamer Zucht und Controlle den Haupttheil der über¬
nommenen Verpflichtungen unerfüllt lassen. Die Selbstverwaltung der
von allen gutsherrlichen Einflüssen emancipirten Gemeinden führt viel¬
fach Anarchie und Gesetzlosigkeit im Gefolge, zumal der Eifer des jungen
liberalen Adels für Uebernahme der Friedensrichterposten abgekühlt,->und ein
Theil derselben bereits in die Hände gewissenloser Bureaukraten der alten Schule
gefallen ist. Von mehr wie eitler Seite her war seit Jahr und Tag über
Zerrüttung der ländlichen Polizei, Verfall der Wege und Communications-
mittel, Zuchtlosigkeit, Liederlichkeit und Trägheit des Landvolks geklagt wor-
den; selbst die Moskaner Zeitung hatte diesen Beschwerden ihr Ohr nicht
ganz verschließen können. Aber erst seit die Ungunst der Natur das durch
den Unverstand der Menschen verschuldete Uebel über sein gewöhnliches Maß
hinaus vergrößert hat, zeigt die russische Nationalpartei Neigung und Fähig¬
keit, auf die Wurzel des Unheils zurückzugehen und die Unfehlbarkeit jenes


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[0284] Herausforderungen gegen den Westen erfüllt waren, beginnen der schwierigen wirthschaftlichen Lage der großen östlichen Monarchie aufmerksamere Theil¬ nahme zu widmen. Indeß die offizielle und offiziöse Presse Petersburgs bemüht ist, die aus der feindlichen Haltung Rußlands in der orientalischen Frage gezogenen Schlüsse auf eine Erkaltung der russisch-preußischen Be¬ ziehungen Lügen zu strafen und die Leichtfertigkeit zu beklagen, mit welcher die Moskaner Nationalpartei dem Gerede von einer Jsolirung Rußlands Vor¬ schub geleistet hatte, häufen sich die Nachrichten über die furchtbaren Folgen des Mißwachses im Herbst 1867. Nicht nur in Finnland und in den Preußen benachbarten Theilen Litthauens, auch in den centralen Provinzen Twer, Tambow, Njäsan, Tula und Orel und an den eisigen Ufern der Dwina¬ mündung sind die vorhandenen Getreidevorräthe beinahe vollständig auf¬ gezehrt und fragen Hunderttausende von Menschen, womit sie sich selbst, ihre Kinder und ihr Vieh satt machen, wo die Mittel zur Bestreitung der Aus¬ saat des kommenden Frühjahrs herkommen sollen. Zum erstenmal seit Aus¬ hebung der Leibeigenschaft tauchen Stimmen auf, welche offen eingestehen, daß die wirthschaftlichen Folgen des berühmten Gesetzes vom 19. Febr. 1861 keineswegs verwunden sind und daß die Abnahme der Production mit der der ländlichen Bevölkerung ertheilten Freiheit in verhängnißvollen Zusam¬ menhange steht. Der des herrschaftlichen Drucks ledig gewordene Bauer begnügt sich mit einem Minimum von Arbeit, macht von seiner Freiheit den vornehmlichsten Gebrauch in den Schenken und läßt in vielen Fällen einen beträchtlichen Bruchtheil seiner Aecker unbestellt. Der Gutsbesitzer ist überall, wo seine ehemaligen Leibeigenen ihre Frohncontracte in Geldpachtverträge verwandelten, aus die Anmiethung von Tagelöhnern angewiesen, die, wenn überhaupt, nur zu unerschwinglichen hohen Preisen zu haben sind und bei dem Mangel wirksamer Zucht und Controlle den Haupttheil der über¬ nommenen Verpflichtungen unerfüllt lassen. Die Selbstverwaltung der von allen gutsherrlichen Einflüssen emancipirten Gemeinden führt viel¬ fach Anarchie und Gesetzlosigkeit im Gefolge, zumal der Eifer des jungen liberalen Adels für Uebernahme der Friedensrichterposten abgekühlt,->und ein Theil derselben bereits in die Hände gewissenloser Bureaukraten der alten Schule gefallen ist. Von mehr wie eitler Seite her war seit Jahr und Tag über Zerrüttung der ländlichen Polizei, Verfall der Wege und Communications- mittel, Zuchtlosigkeit, Liederlichkeit und Trägheit des Landvolks geklagt wor- den; selbst die Moskaner Zeitung hatte diesen Beschwerden ihr Ohr nicht ganz verschließen können. Aber erst seit die Ungunst der Natur das durch den Unverstand der Menschen verschuldete Uebel über sein gewöhnliches Maß hinaus vergrößert hat, zeigt die russische Nationalpartei Neigung und Fähig¬ keit, auf die Wurzel des Unheils zurückzugehen und die Unfehlbarkeit jenes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/284>, abgerufen am 01.07.2024.