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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Abgeordnetenhauses, fünfte Sitzung am 7. Mai 1867, Seite 34, erste Spalte
und Seite SS, erste Spalte), nicht in das renovirte alte Programm der Fort¬
schrittspartei mit aufgenommen. Selbst die äußerste Rechte verzichtet auf den
Versuch, diese überkünstelte Auslegung ernsthaft zu nehmen.

Dagegen wurde auf Anlaß des Gerüchtes, daß sich der Bundesrath mit
Mer Ausgleichung der Tabakssteuer über das ganze Zollvereinsgebiet be¬
schäftige, die Parole: "keine neuen Steuern" für die zweiten Reichstags¬
wahlen in Scene gesetzt, und mit der Verdächtigung verbreitet, als ob die
nationalliberale Partei thatsächlich schon bereit wäre, das Volk höher zu
belasten. Also erschien plötzlich das bisherige Steuersystem so vortrefflich,
daß an eine Verbesserung nicht gedacht werden durfte. Also ward ohne
weitere Ueberlegung und ohne alle Debatte angenommen, daß die Central-
gewalt des Bundes auf Matrikularbeiträge angewiesen sein müsse, statt auf
direkte Reichssteuern, worin doch ein entschiedener Protest gegen die Conso-
lidirung des Bundes liegt.

Der Zufall wollte, daß in denselben Tagen der Kämmerer der Stadt
Berlin, den die Fortschrittspartei daselbst als Candidaten aufgestellt hatte,
als städtischer Finanzkünstler eine enorme Erhöhung der ohnedies schon
drückenden Miethssteuer beantragte.

Während also im großen Ganzen das Mißtrauen der Fortschrittspartei
gegen die neue Ordnung der Dinge so weit ging, die Entwicklungsfähigkeit der
Bundesverfassung nicht nur zu bestreiten, sondern auch die Entwicklung der
Bundesorgane thatsächlich zu hemmen, weil man plötzlich in der preußischen
Landesverfassung alle möglichen Vortrefflichkeiten entdeckt zu haben wähnte,
schlugen die Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten der lebhaft betriebenen Wahl¬
agitation gelegentlich auch in das gerade Gegentheil der solchergestalt beob¬
achteten Haltung um. So sprach z, B. der Abgeordnete Duncker in einer
berliner Wählerversammlung davon, daß der preußische Landtag zukünftig
ganz wegfallen dürfte und dem Reichstag bald nur noch Provinziallandtage
gegenüber stehen sollten. Kaum war das kühne Wort gefallen, so nahm ein
Rundschreiben des Centraleomit6s der Fortschrittspartei Bezug darauf, freilich
um mit dem Ausdruck der Verlegenheit anzudeuten, daß diesem Zukunftspro¬
gramm nothwendig erst eine Reform der Provinzialstände vorausgehen müsst.

So war denn zur selben Zeit in der Partei, welche sich vorzugsweise
die Deutsche genannt und aus früherer Zeit einige bedenkliche Reden gegen
Preußische Großmachtspolitik und Großmachtsdünkel zu vertreten hatte, bald
ein specifisch preußischer Standpunkt zu erkennen, bald wiederum ein ge¬
legentliches Umschlagen in ein schroffes und unvermitteltes Einheitsprogramm.

Wäre es nicht längst ein in der Seelenkunde feststehender Erfahrungs¬
satz, daß die Unduldsamkeit gegen fremde Anschauungen in dem Maße steigt,


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Abgeordnetenhauses, fünfte Sitzung am 7. Mai 1867, Seite 34, erste Spalte
und Seite SS, erste Spalte), nicht in das renovirte alte Programm der Fort¬
schrittspartei mit aufgenommen. Selbst die äußerste Rechte verzichtet auf den
Versuch, diese überkünstelte Auslegung ernsthaft zu nehmen.

Dagegen wurde auf Anlaß des Gerüchtes, daß sich der Bundesrath mit
Mer Ausgleichung der Tabakssteuer über das ganze Zollvereinsgebiet be¬
schäftige, die Parole: „keine neuen Steuern" für die zweiten Reichstags¬
wahlen in Scene gesetzt, und mit der Verdächtigung verbreitet, als ob die
nationalliberale Partei thatsächlich schon bereit wäre, das Volk höher zu
belasten. Also erschien plötzlich das bisherige Steuersystem so vortrefflich,
daß an eine Verbesserung nicht gedacht werden durfte. Also ward ohne
weitere Ueberlegung und ohne alle Debatte angenommen, daß die Central-
gewalt des Bundes auf Matrikularbeiträge angewiesen sein müsse, statt auf
direkte Reichssteuern, worin doch ein entschiedener Protest gegen die Conso-
lidirung des Bundes liegt.

Der Zufall wollte, daß in denselben Tagen der Kämmerer der Stadt
Berlin, den die Fortschrittspartei daselbst als Candidaten aufgestellt hatte,
als städtischer Finanzkünstler eine enorme Erhöhung der ohnedies schon
drückenden Miethssteuer beantragte.

Während also im großen Ganzen das Mißtrauen der Fortschrittspartei
gegen die neue Ordnung der Dinge so weit ging, die Entwicklungsfähigkeit der
Bundesverfassung nicht nur zu bestreiten, sondern auch die Entwicklung der
Bundesorgane thatsächlich zu hemmen, weil man plötzlich in der preußischen
Landesverfassung alle möglichen Vortrefflichkeiten entdeckt zu haben wähnte,
schlugen die Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten der lebhaft betriebenen Wahl¬
agitation gelegentlich auch in das gerade Gegentheil der solchergestalt beob¬
achteten Haltung um. So sprach z, B. der Abgeordnete Duncker in einer
berliner Wählerversammlung davon, daß der preußische Landtag zukünftig
ganz wegfallen dürfte und dem Reichstag bald nur noch Provinziallandtage
gegenüber stehen sollten. Kaum war das kühne Wort gefallen, so nahm ein
Rundschreiben des Centraleomit6s der Fortschrittspartei Bezug darauf, freilich
um mit dem Ausdruck der Verlegenheit anzudeuten, daß diesem Zukunftspro¬
gramm nothwendig erst eine Reform der Provinzialstände vorausgehen müsst.

So war denn zur selben Zeit in der Partei, welche sich vorzugsweise
die Deutsche genannt und aus früherer Zeit einige bedenkliche Reden gegen
Preußische Großmachtspolitik und Großmachtsdünkel zu vertreten hatte, bald
ein specifisch preußischer Standpunkt zu erkennen, bald wiederum ein ge¬
legentliches Umschlagen in ein schroffes und unvermitteltes Einheitsprogramm.

Wäre es nicht längst ein in der Seelenkunde feststehender Erfahrungs¬
satz, daß die Unduldsamkeit gegen fremde Anschauungen in dem Maße steigt,


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[0179] Abgeordnetenhauses, fünfte Sitzung am 7. Mai 1867, Seite 34, erste Spalte und Seite SS, erste Spalte), nicht in das renovirte alte Programm der Fort¬ schrittspartei mit aufgenommen. Selbst die äußerste Rechte verzichtet auf den Versuch, diese überkünstelte Auslegung ernsthaft zu nehmen. Dagegen wurde auf Anlaß des Gerüchtes, daß sich der Bundesrath mit Mer Ausgleichung der Tabakssteuer über das ganze Zollvereinsgebiet be¬ schäftige, die Parole: „keine neuen Steuern" für die zweiten Reichstags¬ wahlen in Scene gesetzt, und mit der Verdächtigung verbreitet, als ob die nationalliberale Partei thatsächlich schon bereit wäre, das Volk höher zu belasten. Also erschien plötzlich das bisherige Steuersystem so vortrefflich, daß an eine Verbesserung nicht gedacht werden durfte. Also ward ohne weitere Ueberlegung und ohne alle Debatte angenommen, daß die Central- gewalt des Bundes auf Matrikularbeiträge angewiesen sein müsse, statt auf direkte Reichssteuern, worin doch ein entschiedener Protest gegen die Conso- lidirung des Bundes liegt. Der Zufall wollte, daß in denselben Tagen der Kämmerer der Stadt Berlin, den die Fortschrittspartei daselbst als Candidaten aufgestellt hatte, als städtischer Finanzkünstler eine enorme Erhöhung der ohnedies schon drückenden Miethssteuer beantragte. Während also im großen Ganzen das Mißtrauen der Fortschrittspartei gegen die neue Ordnung der Dinge so weit ging, die Entwicklungsfähigkeit der Bundesverfassung nicht nur zu bestreiten, sondern auch die Entwicklung der Bundesorgane thatsächlich zu hemmen, weil man plötzlich in der preußischen Landesverfassung alle möglichen Vortrefflichkeiten entdeckt zu haben wähnte, schlugen die Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten der lebhaft betriebenen Wahl¬ agitation gelegentlich auch in das gerade Gegentheil der solchergestalt beob¬ achteten Haltung um. So sprach z, B. der Abgeordnete Duncker in einer berliner Wählerversammlung davon, daß der preußische Landtag zukünftig ganz wegfallen dürfte und dem Reichstag bald nur noch Provinziallandtage gegenüber stehen sollten. Kaum war das kühne Wort gefallen, so nahm ein Rundschreiben des Centraleomit6s der Fortschrittspartei Bezug darauf, freilich um mit dem Ausdruck der Verlegenheit anzudeuten, daß diesem Zukunftspro¬ gramm nothwendig erst eine Reform der Provinzialstände vorausgehen müsst. So war denn zur selben Zeit in der Partei, welche sich vorzugsweise die Deutsche genannt und aus früherer Zeit einige bedenkliche Reden gegen Preußische Großmachtspolitik und Großmachtsdünkel zu vertreten hatte, bald ein specifisch preußischer Standpunkt zu erkennen, bald wiederum ein ge¬ legentliches Umschlagen in ein schroffes und unvermitteltes Einheitsprogramm. Wäre es nicht längst ein in der Seelenkunde feststehender Erfahrungs¬ satz, daß die Unduldsamkeit gegen fremde Anschauungen in dem Maße steigt, 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/179>, abgerufen am 22.07.2024.