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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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je unreifer und unbegründbarer die eigenen Anschauungen find, so hätte man
sich über die Intoleranz der Fortschrittspartei bei so vielen Widersprüchen in
ihrem eigenen Schooße und einem so wenig festen Programm billig verwun¬
dern können. Dieselben Widersprüche, welche bei den Wahlbewegungen zu
Tage traten, machten sich auch im parlamentarischen Wirken geltend. Der
Gesinnungsterrorismus, der gegen die Bundesverfassung aufgeboten worden,
hatte nicht den gewünschten und erwarteten Erfolg gehabt. Die Provinzen
glaubten es dem oben erwähnten Dreimännerantrage nicht, daß der Vor¬
legung und allseitigen Annahme eines freisinnigeren Bundesverfassungs¬
entwurfes wirklich kein Hinderniß im Wege stünde, sie glaubten auch nicht,
baß bloße Militärverträge, besonders in kritischen Zeitläuften, das staats¬
rechtliche Band ersetzen könnten, und waren nicht wenig erstaunt, diese Be¬
hauptung gerade von den "entschiedensten" Liberalen aussprechen zu hören.
In provinzialen Wahlkreisen wurde denn auch vielfach 'der Versuch gemacht,
die Bedeutung des verneinenden Votums der Fortschrittspartei möglichst zu
mindern. In der That konnte die Abstimmung gegen eine Verfassung, welche daS
legale Erzeugniß des allgemeinen Stimmrechts war, kaum vom Standpunkte
des konsequentesten Radikalismus aus gerechtfertigt werden, und auch diesen
haben ja die einflußreichsten Mitglieder der Fortschrittspartei niemals einge¬
nommen. Aber noch weniger durfte eine consequent liberale Partei, besonders
nachdem sie sich einmal auf den Boden der Bundesverfassung gestellt und die
Wahlen zum konstitutionellen Reichstage angenommen, das Organ des allge¬
meinen Stimmrechts in seiner Autorität zu schwächen suchen. Welchen andern
Sinn und Zweck konnte aber das Votum der Fortschrittspartei gegen eine
Adresse nach Eröffnung des zweiten Reichstages haben, da doch in diesem Mo¬
ment kein anderes Mittel gegeben war, das Parlament aus den rein technischen
Beschäftigungen in die Sphäre der höheren Politik zu erheben und dadurch dem
Drang nach nationaler Einheit einen gewaltigen Ausdruck zu verleihen? Ich
übergehe die kostbaren Argumente, womit ein Antrag gefährdet wurde, dessen
Beseitigung ein Triumph der Partieularisten gewesen wäre. Herr Ziegler,
der Unberechenbare, der vor dem Kriege von 1866 Geist und Muth genug
gehabt hatte, in seiner breslauer Wahlrede zu sagen, das Herz der Demo¬
kratie schlage da, wo Preußens Fahnen wehen, wurde in das Vordertreffen
geschickt und warnte vor der Beunruhigung der Börse, indem er hinzufügte,
man brauche dem Grafen Bismarck nicht erst Muth und Entschlossenheit ein¬
zuflößen. -- Aehnliches wiederholte sich am Schluß des zweiten Reichstages
beim Braun'schen Antrage, nur unter noch erschwerenderen Umständen. Dieser
Antrag bezweckte bekanntlich, die Erneuerung der Zoll- und Handelsverträge
mit den süddeutschen Staaten an die Bedingung der Schutz- und Trutzbünd¬
nisse zu knüpfen, die Gemeinschaft der materiellen Interessen von der Ge-


je unreifer und unbegründbarer die eigenen Anschauungen find, so hätte man
sich über die Intoleranz der Fortschrittspartei bei so vielen Widersprüchen in
ihrem eigenen Schooße und einem so wenig festen Programm billig verwun¬
dern können. Dieselben Widersprüche, welche bei den Wahlbewegungen zu
Tage traten, machten sich auch im parlamentarischen Wirken geltend. Der
Gesinnungsterrorismus, der gegen die Bundesverfassung aufgeboten worden,
hatte nicht den gewünschten und erwarteten Erfolg gehabt. Die Provinzen
glaubten es dem oben erwähnten Dreimännerantrage nicht, daß der Vor¬
legung und allseitigen Annahme eines freisinnigeren Bundesverfassungs¬
entwurfes wirklich kein Hinderniß im Wege stünde, sie glaubten auch nicht,
baß bloße Militärverträge, besonders in kritischen Zeitläuften, das staats¬
rechtliche Band ersetzen könnten, und waren nicht wenig erstaunt, diese Be¬
hauptung gerade von den „entschiedensten" Liberalen aussprechen zu hören.
In provinzialen Wahlkreisen wurde denn auch vielfach 'der Versuch gemacht,
die Bedeutung des verneinenden Votums der Fortschrittspartei möglichst zu
mindern. In der That konnte die Abstimmung gegen eine Verfassung, welche daS
legale Erzeugniß des allgemeinen Stimmrechts war, kaum vom Standpunkte
des konsequentesten Radikalismus aus gerechtfertigt werden, und auch diesen
haben ja die einflußreichsten Mitglieder der Fortschrittspartei niemals einge¬
nommen. Aber noch weniger durfte eine consequent liberale Partei, besonders
nachdem sie sich einmal auf den Boden der Bundesverfassung gestellt und die
Wahlen zum konstitutionellen Reichstage angenommen, das Organ des allge¬
meinen Stimmrechts in seiner Autorität zu schwächen suchen. Welchen andern
Sinn und Zweck konnte aber das Votum der Fortschrittspartei gegen eine
Adresse nach Eröffnung des zweiten Reichstages haben, da doch in diesem Mo¬
ment kein anderes Mittel gegeben war, das Parlament aus den rein technischen
Beschäftigungen in die Sphäre der höheren Politik zu erheben und dadurch dem
Drang nach nationaler Einheit einen gewaltigen Ausdruck zu verleihen? Ich
übergehe die kostbaren Argumente, womit ein Antrag gefährdet wurde, dessen
Beseitigung ein Triumph der Partieularisten gewesen wäre. Herr Ziegler,
der Unberechenbare, der vor dem Kriege von 1866 Geist und Muth genug
gehabt hatte, in seiner breslauer Wahlrede zu sagen, das Herz der Demo¬
kratie schlage da, wo Preußens Fahnen wehen, wurde in das Vordertreffen
geschickt und warnte vor der Beunruhigung der Börse, indem er hinzufügte,
man brauche dem Grafen Bismarck nicht erst Muth und Entschlossenheit ein¬
zuflößen. — Aehnliches wiederholte sich am Schluß des zweiten Reichstages
beim Braun'schen Antrage, nur unter noch erschwerenderen Umständen. Dieser
Antrag bezweckte bekanntlich, die Erneuerung der Zoll- und Handelsverträge
mit den süddeutschen Staaten an die Bedingung der Schutz- und Trutzbünd¬
nisse zu knüpfen, die Gemeinschaft der materiellen Interessen von der Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/180>, abgerufen am 22.07.2024.