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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Mißverstanden sein, als ob die Meinung gewesen wäre, Preußen stehe von
diesem Augenblicke an unter einem so wahrhaft constitutionellen, ja parlamen¬
tarischen Regierungssystem, daß die Opposition entwaffnen könnte. Auch die sich
der neuen Ordnung der Dinge aufrichtig freuten, haben wohl gewußt, daß
nicht im Handumdrehen ein Rechtsstaat begründet und befestigt wird, daß
selbst der gute Wille der leitenden Minister, wenn das Vorhandensein des¬
selben angenommen werden dürfte, dazu noch lange nicht ausreichen würde.
Aber selbst der Ministerpräsident hatte frühzeitig dafür gesorgt, daß männig-
lich vor Illusionen bewahrt bleibe. Dennoch hieß es bei jeder neuen reac-
tionären oder unconstitutionellen Maßregel immer wieder in den Versamm¬
lungen, wie in den Blättern der Fortschrittspartei: "Seht ihrs nun. ihr
Nationalliberalen, wo bleibt da eure Zwei-Seelentheorie?" -- Immerhin war
an der sogenannten Zwei-Seelentheorie wenigstens das unbestreitbar wahr und
richtig, daß Bismarck die deutsche Politik nach andern Zielpunkten und mit
andern Mitteln betrieb, als die der alten Kreuzzeitungspartei gewesen, und
daß er darum auch in einer Reihe damit zusammenhängender innerer Fragen
sich nach neuen Bundesgenossen umzusehen genöthigt war., Jedenfalls hat
vermittelst dieser Wendung das Herrenhaus beträchtlich an Macht und Auto¬
rität verloren und hat sich unterdessen eine sog. "freiconservative" Partei
gebildet, die sich durch das Bestreben, auf dem Boden der Verfassung zu
stehen und zu rvirken, nicht unwesentlich von allen bisherigen conservativen
Fractionen Preußens unterscheidet.

Da ich die Zeitungen der Fortschrittspartei hier mehrmals anzuführen
genöthigt war, so muß ich hinzufügen, daß die parlamentarischen Führer
derselben früher mit einiger Sorgfalt jede Verantwortung dafür abzulehnen
pflegten. Wenn es in letzter Zeit so genau nicht mehr damit genommen
ward, so ist daraus weder zu schließen, daß der Ton dieser Zeitungen sich
gehoben hätte, noch daß die Partei an innerer Einheit das gewonnen hätte,
was sie an äußerer Ausdehnung verloren, sondern nur, daß die Bewegung
gegen die vermeintlichen Feinde oder Rivalen acuter und heftiger geworden.
Ein besonders beliebter Schachzug in den polemischen Feldzügen gegen die
Nationalliberalen war es, wie schon angedeutet, dieselben immer wieder als
hirnlose Optimisten darzustellen. Zum Beispiel: ein Handwerksbursche wurde
aus Rostock ausgewiesen, ein Handlungsreisender in Kyritz vom Magistrate
chicanirt. Sofort hieß es in der Volkszeitung oder der Zukunft: "Herr
Braun, Herr Laster. wo bleibt eure Freizügigkeit?" -- Als ob alle Gesetze
und Beschlüsse, welche die Fortschrittspartei votirt hat, unverbrüchlich ge¬
halten worden wären! Soll man etwa kein gutes Gesetz machen, weil oder
so lange die Uebertretung desselben nicht zu den absoluten Unmöglichkeiten
gehört? -- Beklage ihr den Mangel an constitutionellen Garantien, wir em-


Grenzboten I. 18S8. 22

Mißverstanden sein, als ob die Meinung gewesen wäre, Preußen stehe von
diesem Augenblicke an unter einem so wahrhaft constitutionellen, ja parlamen¬
tarischen Regierungssystem, daß die Opposition entwaffnen könnte. Auch die sich
der neuen Ordnung der Dinge aufrichtig freuten, haben wohl gewußt, daß
nicht im Handumdrehen ein Rechtsstaat begründet und befestigt wird, daß
selbst der gute Wille der leitenden Minister, wenn das Vorhandensein des¬
selben angenommen werden dürfte, dazu noch lange nicht ausreichen würde.
Aber selbst der Ministerpräsident hatte frühzeitig dafür gesorgt, daß männig-
lich vor Illusionen bewahrt bleibe. Dennoch hieß es bei jeder neuen reac-
tionären oder unconstitutionellen Maßregel immer wieder in den Versamm¬
lungen, wie in den Blättern der Fortschrittspartei: „Seht ihrs nun. ihr
Nationalliberalen, wo bleibt da eure Zwei-Seelentheorie?" — Immerhin war
an der sogenannten Zwei-Seelentheorie wenigstens das unbestreitbar wahr und
richtig, daß Bismarck die deutsche Politik nach andern Zielpunkten und mit
andern Mitteln betrieb, als die der alten Kreuzzeitungspartei gewesen, und
daß er darum auch in einer Reihe damit zusammenhängender innerer Fragen
sich nach neuen Bundesgenossen umzusehen genöthigt war., Jedenfalls hat
vermittelst dieser Wendung das Herrenhaus beträchtlich an Macht und Auto¬
rität verloren und hat sich unterdessen eine sog. „freiconservative" Partei
gebildet, die sich durch das Bestreben, auf dem Boden der Verfassung zu
stehen und zu rvirken, nicht unwesentlich von allen bisherigen conservativen
Fractionen Preußens unterscheidet.

Da ich die Zeitungen der Fortschrittspartei hier mehrmals anzuführen
genöthigt war, so muß ich hinzufügen, daß die parlamentarischen Führer
derselben früher mit einiger Sorgfalt jede Verantwortung dafür abzulehnen
pflegten. Wenn es in letzter Zeit so genau nicht mehr damit genommen
ward, so ist daraus weder zu schließen, daß der Ton dieser Zeitungen sich
gehoben hätte, noch daß die Partei an innerer Einheit das gewonnen hätte,
was sie an äußerer Ausdehnung verloren, sondern nur, daß die Bewegung
gegen die vermeintlichen Feinde oder Rivalen acuter und heftiger geworden.
Ein besonders beliebter Schachzug in den polemischen Feldzügen gegen die
Nationalliberalen war es, wie schon angedeutet, dieselben immer wieder als
hirnlose Optimisten darzustellen. Zum Beispiel: ein Handwerksbursche wurde
aus Rostock ausgewiesen, ein Handlungsreisender in Kyritz vom Magistrate
chicanirt. Sofort hieß es in der Volkszeitung oder der Zukunft: „Herr
Braun, Herr Laster. wo bleibt eure Freizügigkeit?" — Als ob alle Gesetze
und Beschlüsse, welche die Fortschrittspartei votirt hat, unverbrüchlich ge¬
halten worden wären! Soll man etwa kein gutes Gesetz machen, weil oder
so lange die Uebertretung desselben nicht zu den absoluten Unmöglichkeiten
gehört? — Beklage ihr den Mangel an constitutionellen Garantien, wir em-


Grenzboten I. 18S8. 22
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[0177] Mißverstanden sein, als ob die Meinung gewesen wäre, Preußen stehe von diesem Augenblicke an unter einem so wahrhaft constitutionellen, ja parlamen¬ tarischen Regierungssystem, daß die Opposition entwaffnen könnte. Auch die sich der neuen Ordnung der Dinge aufrichtig freuten, haben wohl gewußt, daß nicht im Handumdrehen ein Rechtsstaat begründet und befestigt wird, daß selbst der gute Wille der leitenden Minister, wenn das Vorhandensein des¬ selben angenommen werden dürfte, dazu noch lange nicht ausreichen würde. Aber selbst der Ministerpräsident hatte frühzeitig dafür gesorgt, daß männig- lich vor Illusionen bewahrt bleibe. Dennoch hieß es bei jeder neuen reac- tionären oder unconstitutionellen Maßregel immer wieder in den Versamm¬ lungen, wie in den Blättern der Fortschrittspartei: „Seht ihrs nun. ihr Nationalliberalen, wo bleibt da eure Zwei-Seelentheorie?" — Immerhin war an der sogenannten Zwei-Seelentheorie wenigstens das unbestreitbar wahr und richtig, daß Bismarck die deutsche Politik nach andern Zielpunkten und mit andern Mitteln betrieb, als die der alten Kreuzzeitungspartei gewesen, und daß er darum auch in einer Reihe damit zusammenhängender innerer Fragen sich nach neuen Bundesgenossen umzusehen genöthigt war., Jedenfalls hat vermittelst dieser Wendung das Herrenhaus beträchtlich an Macht und Auto¬ rität verloren und hat sich unterdessen eine sog. „freiconservative" Partei gebildet, die sich durch das Bestreben, auf dem Boden der Verfassung zu stehen und zu rvirken, nicht unwesentlich von allen bisherigen conservativen Fractionen Preußens unterscheidet. Da ich die Zeitungen der Fortschrittspartei hier mehrmals anzuführen genöthigt war, so muß ich hinzufügen, daß die parlamentarischen Führer derselben früher mit einiger Sorgfalt jede Verantwortung dafür abzulehnen pflegten. Wenn es in letzter Zeit so genau nicht mehr damit genommen ward, so ist daraus weder zu schließen, daß der Ton dieser Zeitungen sich gehoben hätte, noch daß die Partei an innerer Einheit das gewonnen hätte, was sie an äußerer Ausdehnung verloren, sondern nur, daß die Bewegung gegen die vermeintlichen Feinde oder Rivalen acuter und heftiger geworden. Ein besonders beliebter Schachzug in den polemischen Feldzügen gegen die Nationalliberalen war es, wie schon angedeutet, dieselben immer wieder als hirnlose Optimisten darzustellen. Zum Beispiel: ein Handwerksbursche wurde aus Rostock ausgewiesen, ein Handlungsreisender in Kyritz vom Magistrate chicanirt. Sofort hieß es in der Volkszeitung oder der Zukunft: „Herr Braun, Herr Laster. wo bleibt eure Freizügigkeit?" — Als ob alle Gesetze und Beschlüsse, welche die Fortschrittspartei votirt hat, unverbrüchlich ge¬ halten worden wären! Soll man etwa kein gutes Gesetz machen, weil oder so lange die Uebertretung desselben nicht zu den absoluten Unmöglichkeiten gehört? — Beklage ihr den Mangel an constitutionellen Garantien, wir em- Grenzboten I. 18S8. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/177>, abgerufen am 22.07.2024.