Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

würfelte Versammlungen über die großen volksvertretenden Körperschaften
rücksichtslos zu Gericht sitzen, und noch weniger, wenn Mitglieder dieser
Körperschaften dazu selbst die Hand bieten. Auch in England kommt es
manchmal vor, daß ein Parlamentsglied in einer populären Versammlung
etwas mehr spricht, als er im Hause unmittelbar durchzusetzen bereit wäre;
aber nach der Hand unterscheidet er das sehr wohl, er hütet sich doch vor
bindenden Versprechungen und hält sich nicht für gefangen in den Netzen
und Fesseln seiner eigenen Eloquenz. Der heftigste Radicale würde sich wohl
besinnen, ehe er seine parlamentarische Stellung von seinem Verhältniß zu
einem beliebigen Discussionsclub regeln ließe; und mehr als solch ein eng¬
lischer Redeübungsverein sind unsre zahlreichsten Bezirksversammlungen auch
nicht. -- Es gehört freilich nicht viel dazu, in einer beliebigen Urwählerver-
sammlung des Jahres 1867 einen Antrag auf schleunigste Einführung der
Reichsverfassung von 1849 zu stellen, oder mit Pathos zu erklären, daß man
lieber einen Reactionär wähle, als einen Nationalliberalen durchlasse.

Die Taktik, welche in solchen Willensmeinungen ausgesprochen liegt,
wurde nur zu oft zur Richtschnur der Fortschrittspartei und aus den Club¬
sälen in würdigere Räume übertragen. Eben weil sie nicht mit Consequenz
eine wirklich radicale Partei zu sein und ein prinzipiell festes Programm
aufzustellen und zu befolgen vermag, darum mag sie eine praktisch liberale
Partei nicht neben sich dulden. Wäre sie eine wirklich radicale Partei in
der historischen Bedeutung des Wortes, und nicht blos gelegentlich von ein¬
zelnen radicalisirenden Schriftstellern beeinflußt, so möchte ihr das Bestehen
einer liberalen Partei, welche für bescheidene praktische Fortschritte auf dem
Gebiete Majoritäten zu gewinnen weiß und ihr das Terrain für weiter¬
gehende Anträge ebnet, sehr willkommen sein. Denn daß sie nicht mehr
ohne weiteres, auch wenn die national-liberale Partei sich auflöste, eine Ma¬
jorität unter ihrer eigenen Fahne sammeln könnte, muß dem naivsten ihrer
Anhänger endlich klar geworden sein.

Keineswegs hat sich die ganze Fortschrittspartei stets von allen Compro-
missen fern gehalten; ein großer Theil ihrer Mitglieder ging auf die In¬
demnität ein, weil sie einsahen, daß das Volk sie sonst im Stiche lassen würde,
aber sie scheinen den Inhalt und die Consequenzen ihrer eignen Beschlüsse
nicht vollauf begriffen zu haben und fielen in die frühere BeHandlungsweise
der Geschäfte fortwährend zurück. Wohlbemerkt, unter allen denen, welche
nach Königgrätz die Indemnität bewilligten oder die Bewilligung guthießen,
hat wohl kein Mensch, der sich gesunder Sinne rühmen darf, an eine Be¬
kehrung des Ministeriums Bismarck-Lippe zu wirklich liberalen Regierungs"
grundsätzen geglaubt, wie die Organe der Fortschrittspartei damals von den
Nationalliberalen zu vermuthen vorgaben. Niemals dürfte das Votum so


würfelte Versammlungen über die großen volksvertretenden Körperschaften
rücksichtslos zu Gericht sitzen, und noch weniger, wenn Mitglieder dieser
Körperschaften dazu selbst die Hand bieten. Auch in England kommt es
manchmal vor, daß ein Parlamentsglied in einer populären Versammlung
etwas mehr spricht, als er im Hause unmittelbar durchzusetzen bereit wäre;
aber nach der Hand unterscheidet er das sehr wohl, er hütet sich doch vor
bindenden Versprechungen und hält sich nicht für gefangen in den Netzen
und Fesseln seiner eigenen Eloquenz. Der heftigste Radicale würde sich wohl
besinnen, ehe er seine parlamentarische Stellung von seinem Verhältniß zu
einem beliebigen Discussionsclub regeln ließe; und mehr als solch ein eng¬
lischer Redeübungsverein sind unsre zahlreichsten Bezirksversammlungen auch
nicht. — Es gehört freilich nicht viel dazu, in einer beliebigen Urwählerver-
sammlung des Jahres 1867 einen Antrag auf schleunigste Einführung der
Reichsverfassung von 1849 zu stellen, oder mit Pathos zu erklären, daß man
lieber einen Reactionär wähle, als einen Nationalliberalen durchlasse.

Die Taktik, welche in solchen Willensmeinungen ausgesprochen liegt,
wurde nur zu oft zur Richtschnur der Fortschrittspartei und aus den Club¬
sälen in würdigere Räume übertragen. Eben weil sie nicht mit Consequenz
eine wirklich radicale Partei zu sein und ein prinzipiell festes Programm
aufzustellen und zu befolgen vermag, darum mag sie eine praktisch liberale
Partei nicht neben sich dulden. Wäre sie eine wirklich radicale Partei in
der historischen Bedeutung des Wortes, und nicht blos gelegentlich von ein¬
zelnen radicalisirenden Schriftstellern beeinflußt, so möchte ihr das Bestehen
einer liberalen Partei, welche für bescheidene praktische Fortschritte auf dem
Gebiete Majoritäten zu gewinnen weiß und ihr das Terrain für weiter¬
gehende Anträge ebnet, sehr willkommen sein. Denn daß sie nicht mehr
ohne weiteres, auch wenn die national-liberale Partei sich auflöste, eine Ma¬
jorität unter ihrer eigenen Fahne sammeln könnte, muß dem naivsten ihrer
Anhänger endlich klar geworden sein.

Keineswegs hat sich die ganze Fortschrittspartei stets von allen Compro-
missen fern gehalten; ein großer Theil ihrer Mitglieder ging auf die In¬
demnität ein, weil sie einsahen, daß das Volk sie sonst im Stiche lassen würde,
aber sie scheinen den Inhalt und die Consequenzen ihrer eignen Beschlüsse
nicht vollauf begriffen zu haben und fielen in die frühere BeHandlungsweise
der Geschäfte fortwährend zurück. Wohlbemerkt, unter allen denen, welche
nach Königgrätz die Indemnität bewilligten oder die Bewilligung guthießen,
hat wohl kein Mensch, der sich gesunder Sinne rühmen darf, an eine Be¬
kehrung des Ministeriums Bismarck-Lippe zu wirklich liberalen Regierungs»
grundsätzen geglaubt, wie die Organe der Fortschrittspartei damals von den
Nationalliberalen zu vermuthen vorgaben. Niemals dürfte das Votum so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117182"/>
          <p xml:id="ID_474" prev="#ID_473"> würfelte Versammlungen über die großen volksvertretenden Körperschaften<lb/>
rücksichtslos zu Gericht sitzen, und noch weniger, wenn Mitglieder dieser<lb/>
Körperschaften dazu selbst die Hand bieten. Auch in England kommt es<lb/>
manchmal vor, daß ein Parlamentsglied in einer populären Versammlung<lb/>
etwas mehr spricht, als er im Hause unmittelbar durchzusetzen bereit wäre;<lb/>
aber nach der Hand unterscheidet er das sehr wohl, er hütet sich doch vor<lb/>
bindenden Versprechungen und hält sich nicht für gefangen in den Netzen<lb/>
und Fesseln seiner eigenen Eloquenz. Der heftigste Radicale würde sich wohl<lb/>
besinnen, ehe er seine parlamentarische Stellung von seinem Verhältniß zu<lb/>
einem beliebigen Discussionsclub regeln ließe; und mehr als solch ein eng¬<lb/>
lischer Redeübungsverein sind unsre zahlreichsten Bezirksversammlungen auch<lb/>
nicht. &#x2014; Es gehört freilich nicht viel dazu, in einer beliebigen Urwählerver-<lb/>
sammlung des Jahres 1867 einen Antrag auf schleunigste Einführung der<lb/>
Reichsverfassung von 1849 zu stellen, oder mit Pathos zu erklären, daß man<lb/>
lieber einen Reactionär wähle, als einen Nationalliberalen durchlasse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_475"> Die Taktik, welche in solchen Willensmeinungen ausgesprochen liegt,<lb/>
wurde nur zu oft zur Richtschnur der Fortschrittspartei und aus den Club¬<lb/>
sälen in würdigere Räume übertragen. Eben weil sie nicht mit Consequenz<lb/>
eine wirklich radicale Partei zu sein und ein prinzipiell festes Programm<lb/>
aufzustellen und zu befolgen vermag, darum mag sie eine praktisch liberale<lb/>
Partei nicht neben sich dulden. Wäre sie eine wirklich radicale Partei in<lb/>
der historischen Bedeutung des Wortes, und nicht blos gelegentlich von ein¬<lb/>
zelnen radicalisirenden Schriftstellern beeinflußt, so möchte ihr das Bestehen<lb/>
einer liberalen Partei, welche für bescheidene praktische Fortschritte auf dem<lb/>
Gebiete Majoritäten zu gewinnen weiß und ihr das Terrain für weiter¬<lb/>
gehende Anträge ebnet, sehr willkommen sein. Denn daß sie nicht mehr<lb/>
ohne weiteres, auch wenn die national-liberale Partei sich auflöste, eine Ma¬<lb/>
jorität unter ihrer eigenen Fahne sammeln könnte, muß dem naivsten ihrer<lb/>
Anhänger endlich klar geworden sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_476" next="#ID_477"> Keineswegs hat sich die ganze Fortschrittspartei stets von allen Compro-<lb/>
missen fern gehalten; ein großer Theil ihrer Mitglieder ging auf die In¬<lb/>
demnität ein, weil sie einsahen, daß das Volk sie sonst im Stiche lassen würde,<lb/>
aber sie scheinen den Inhalt und die Consequenzen ihrer eignen Beschlüsse<lb/>
nicht vollauf begriffen zu haben und fielen in die frühere BeHandlungsweise<lb/>
der Geschäfte fortwährend zurück. Wohlbemerkt, unter allen denen, welche<lb/>
nach Königgrätz die Indemnität bewilligten oder die Bewilligung guthießen,<lb/>
hat wohl kein Mensch, der sich gesunder Sinne rühmen darf, an eine Be¬<lb/>
kehrung des Ministeriums Bismarck-Lippe zu wirklich liberalen Regierungs»<lb/>
grundsätzen geglaubt, wie die Organe der Fortschrittspartei damals von den<lb/>
Nationalliberalen zu vermuthen vorgaben.  Niemals dürfte das Votum so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0176] würfelte Versammlungen über die großen volksvertretenden Körperschaften rücksichtslos zu Gericht sitzen, und noch weniger, wenn Mitglieder dieser Körperschaften dazu selbst die Hand bieten. Auch in England kommt es manchmal vor, daß ein Parlamentsglied in einer populären Versammlung etwas mehr spricht, als er im Hause unmittelbar durchzusetzen bereit wäre; aber nach der Hand unterscheidet er das sehr wohl, er hütet sich doch vor bindenden Versprechungen und hält sich nicht für gefangen in den Netzen und Fesseln seiner eigenen Eloquenz. Der heftigste Radicale würde sich wohl besinnen, ehe er seine parlamentarische Stellung von seinem Verhältniß zu einem beliebigen Discussionsclub regeln ließe; und mehr als solch ein eng¬ lischer Redeübungsverein sind unsre zahlreichsten Bezirksversammlungen auch nicht. — Es gehört freilich nicht viel dazu, in einer beliebigen Urwählerver- sammlung des Jahres 1867 einen Antrag auf schleunigste Einführung der Reichsverfassung von 1849 zu stellen, oder mit Pathos zu erklären, daß man lieber einen Reactionär wähle, als einen Nationalliberalen durchlasse. Die Taktik, welche in solchen Willensmeinungen ausgesprochen liegt, wurde nur zu oft zur Richtschnur der Fortschrittspartei und aus den Club¬ sälen in würdigere Räume übertragen. Eben weil sie nicht mit Consequenz eine wirklich radicale Partei zu sein und ein prinzipiell festes Programm aufzustellen und zu befolgen vermag, darum mag sie eine praktisch liberale Partei nicht neben sich dulden. Wäre sie eine wirklich radicale Partei in der historischen Bedeutung des Wortes, und nicht blos gelegentlich von ein¬ zelnen radicalisirenden Schriftstellern beeinflußt, so möchte ihr das Bestehen einer liberalen Partei, welche für bescheidene praktische Fortschritte auf dem Gebiete Majoritäten zu gewinnen weiß und ihr das Terrain für weiter¬ gehende Anträge ebnet, sehr willkommen sein. Denn daß sie nicht mehr ohne weiteres, auch wenn die national-liberale Partei sich auflöste, eine Ma¬ jorität unter ihrer eigenen Fahne sammeln könnte, muß dem naivsten ihrer Anhänger endlich klar geworden sein. Keineswegs hat sich die ganze Fortschrittspartei stets von allen Compro- missen fern gehalten; ein großer Theil ihrer Mitglieder ging auf die In¬ demnität ein, weil sie einsahen, daß das Volk sie sonst im Stiche lassen würde, aber sie scheinen den Inhalt und die Consequenzen ihrer eignen Beschlüsse nicht vollauf begriffen zu haben und fielen in die frühere BeHandlungsweise der Geschäfte fortwährend zurück. Wohlbemerkt, unter allen denen, welche nach Königgrätz die Indemnität bewilligten oder die Bewilligung guthießen, hat wohl kein Mensch, der sich gesunder Sinne rühmen darf, an eine Be¬ kehrung des Ministeriums Bismarck-Lippe zu wirklich liberalen Regierungs» grundsätzen geglaubt, wie die Organe der Fortschrittspartei damals von den Nationalliberalen zu vermuthen vorgaben. Niemals dürfte das Votum so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/176
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/176>, abgerufen am 22.07.2024.