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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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weiß zu gut, daß die Annexion für sie zur Folge haben würde, sie fern von
ihrer Heimath in untergeordnete Stellen zu versetzen und überall in die hö¬
heren geborne Preußen einrücken zu lassen. Die große Menge schwankt.
Preußen scheint ihr zu sagen: "Da ihr alle Lasten der preußischen Unterthanen
tragt, thätet ihr am besten, ihr würdet ganz und gar preußisch und hättet
auch alle Vortheile davon"; aber man fürchtet die despotische Art und Weise
seiner Verwaltungsbeamten; und die Schwierigkeiten aller Art, denen es in
den neu erworbenen Provinzen begegnet, ermuthigen die Anhänger der An¬
nexion in den Nachbarstaaten keineswegs. In der That wissen die kleinen
Staaten des Nordhundes nichts von einer so großen Verwaltungsmaschine,
wie sie für die Einführung eines centralisirenden Despotismus nothwendig
ist, und eine solche würde sich dort weder leicht noch schnell einbürgern.

In entgegengesetzter Richtung läuft die Bewegung der Gemüther in
den deutschen Südstaaten, auf welchen die Jsolirung, die ihnen durch den
prager Frieden auferlegt worden, schwer lastet. Die Mainlinie, die von
Herrn v, Bismarck in gutem Glauben aufgestellt wurde, ist von den Deut¬
schen niemals ernsthaft gemeint gewesen. Sie würde nur mit preußischen
Wachen auf dem einen, und östreichischen auf dem andern Ufer möglich ge¬
worden sein; aber nachdem die östreichische Macht einmal bei Seite geschoben
wurde, waren die prager Stipulationen für die Südstaaten nur eine Art
Buße, nur ein "Nachsitzenlassen", wie es die Schüler nennen, von wo sie früher
oder später wieder erlöst werden müssen. Würden die Süddeutschen die preu¬
ßische Militärherrschaft vielleicht haben bekämpfen können, wenn sie sich zu Vor¬
kämpfern der liberalen Sache in Deutschland gemacht und das Beispiel der Schweiz
und Belgiens nachgeahmt hätten, die, neben mächtigen Nachbarn gelegen,
ihre geringere materielle Macht durch Ueberlegenheit ihrer Institutionen aus¬
gleichen? Man darf daran zweifeln. Um eine Fahne, selbst die der Freiheit,
wehen zu lassen, bedarf es doch immer eines Windes; aber kein Hauch würde
geweht haben, um sie zu entfalten, wenn die Südstaaten sie gegen Preußen
hätten erheben wollen. Jedenfalls haben ihre Regierungen nicht einen Augen¬
blick daran gedacht, ein so gewagtes Experiment zu versuchen. Nord- und
Süd-Deutschland sind nur eine Nation. Nicht einmal die Religionsfrage
theilt sie.

Man nehme zum Beispiel das Rheinthal und die anliegenden Provinzen;
im^Süden sind Baden, Darmstadt und Würtemberg großenteils protestantisch,
während im Norden die Rheinprovinzen und Westphalen fast ganz katholisch
sind. Süddeutschland lebt durch seine enge Verbindung mit dem Norden.
Seine künstlichen Hauptstädte: Karlsruhe, Stuttgart, München, seine alten
Reichsstädte: Regensburg, Augsburg, selbst das industriöse Nürnberg, seine
vornehmste Universität Heidelberg, genügen nicht, um ihm ein eigenes Leben


weiß zu gut, daß die Annexion für sie zur Folge haben würde, sie fern von
ihrer Heimath in untergeordnete Stellen zu versetzen und überall in die hö¬
heren geborne Preußen einrücken zu lassen. Die große Menge schwankt.
Preußen scheint ihr zu sagen: „Da ihr alle Lasten der preußischen Unterthanen
tragt, thätet ihr am besten, ihr würdet ganz und gar preußisch und hättet
auch alle Vortheile davon"; aber man fürchtet die despotische Art und Weise
seiner Verwaltungsbeamten; und die Schwierigkeiten aller Art, denen es in
den neu erworbenen Provinzen begegnet, ermuthigen die Anhänger der An¬
nexion in den Nachbarstaaten keineswegs. In der That wissen die kleinen
Staaten des Nordhundes nichts von einer so großen Verwaltungsmaschine,
wie sie für die Einführung eines centralisirenden Despotismus nothwendig
ist, und eine solche würde sich dort weder leicht noch schnell einbürgern.

In entgegengesetzter Richtung läuft die Bewegung der Gemüther in
den deutschen Südstaaten, auf welchen die Jsolirung, die ihnen durch den
prager Frieden auferlegt worden, schwer lastet. Die Mainlinie, die von
Herrn v, Bismarck in gutem Glauben aufgestellt wurde, ist von den Deut¬
schen niemals ernsthaft gemeint gewesen. Sie würde nur mit preußischen
Wachen auf dem einen, und östreichischen auf dem andern Ufer möglich ge¬
worden sein; aber nachdem die östreichische Macht einmal bei Seite geschoben
wurde, waren die prager Stipulationen für die Südstaaten nur eine Art
Buße, nur ein „Nachsitzenlassen", wie es die Schüler nennen, von wo sie früher
oder später wieder erlöst werden müssen. Würden die Süddeutschen die preu¬
ßische Militärherrschaft vielleicht haben bekämpfen können, wenn sie sich zu Vor¬
kämpfern der liberalen Sache in Deutschland gemacht und das Beispiel der Schweiz
und Belgiens nachgeahmt hätten, die, neben mächtigen Nachbarn gelegen,
ihre geringere materielle Macht durch Ueberlegenheit ihrer Institutionen aus¬
gleichen? Man darf daran zweifeln. Um eine Fahne, selbst die der Freiheit,
wehen zu lassen, bedarf es doch immer eines Windes; aber kein Hauch würde
geweht haben, um sie zu entfalten, wenn die Südstaaten sie gegen Preußen
hätten erheben wollen. Jedenfalls haben ihre Regierungen nicht einen Augen¬
blick daran gedacht, ein so gewagtes Experiment zu versuchen. Nord- und
Süd-Deutschland sind nur eine Nation. Nicht einmal die Religionsfrage
theilt sie.

Man nehme zum Beispiel das Rheinthal und die anliegenden Provinzen;
im^Süden sind Baden, Darmstadt und Würtemberg großenteils protestantisch,
während im Norden die Rheinprovinzen und Westphalen fast ganz katholisch
sind. Süddeutschland lebt durch seine enge Verbindung mit dem Norden.
Seine künstlichen Hauptstädte: Karlsruhe, Stuttgart, München, seine alten
Reichsstädte: Regensburg, Augsburg, selbst das industriöse Nürnberg, seine
vornehmste Universität Heidelberg, genügen nicht, um ihm ein eigenes Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/135>, abgerufen am 24.08.2024.