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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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nach einer deutschen Gesetzgebung sich richten. Diese Gründe sind von Seite
des Ministertisches wie der Abgeordnetenbänke ehrlich und unbefangen ein¬
gestanden worden. Man wollte der Welt zeigen, daß auch ein Staat wie
Würtemberg noch das Zeug zu selbständigen Reformen und Gesetzesarbeiten
besitze.

Noch mehr, man will gerade durch die Reformen dem souveränen Staat,
der durch die Verträge befestigt zu einer Dauer bis ans Ende der Tage sich
anschickt, neue Lebenskräfte zuführen. Dies ist der Gedanke, der bei den
übrigen Regierungsentwürsen, welche die Verfassung und die Verwaltung
betreffen und zu welchen auch noch ein Entwurf zu einer Synodalverfassung
der evangelischen Landeskirche getreten ist, der maßgebende war. Auch die
Reform der Verfassung, namentlich was die Zusammensetzung der beiden
Kammern betrifft, ist längst ein anerkanntes Bedürfniß. Ohne daß man
großen Werth auf die berühmten 43,000 Unterschriften legen könnte, welche
für die Petition der Volkspartei von denen eingesammelt worden sind, "die
nicht preußisch werden wollen", hat der einfache Vergleich mit andern Ver¬
fassungen längst nur beschämend für uns sein können. Ungestört in unserem
Bewußtsein, einen Hort gesicherter Freiheit zu besitzen, ertrugen wir in un¬
serer Verfassung Merkwürdigkeiten, die fast nur mit Mecklenburg wetteifern
konnten. Unläugbar sollen nun Verbesserungen eingeführt werden, aber es
ist auch sofort klar, daß sie nur zögernd und zaghaft bewilligt sind, und daß
die Regierung mit tiefem Mißtrauen sich auf die schiefe Ebene des modernen
Liberalismus begeben hat. Wo ein Stück Freiheit bewilligt ist, sind auch
die Dämme verdoppelt, durch welche ihre Entfaltung eingeengt ist. Dem
Gift ist sofort wohlwollend das passende Gegengift beigesellt. Was die eine
Hand gibt, die andere nimmt es zur Hälfte zurück. Man will liberal sein
und variirt in allen Tonarten die "Forderungen der Zeit" und die "Selbst-
regierung des Volkes", aber man kann nicht lassen von den Gewohnheiten
der Bureaukratie. Man will neues einführen, aber man will nicht auf das
Alte, auf das "Liebgewordene und Eingelebte" verzichten und gelangt so zu
einer seltsamen Mischung verschiedener Systeme, durch die anstatt einer Ver¬
einfachung der Geschäfte das Gegentheil erreicht wird.

Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen, ohne daß wir uns zu einer
eingehenden Kritik von Projekten versucht fühlen, die größtentheils Projekte
bleiben werden. Für die Wahlen der 64 Bezirksabgeordneten zur zweiten
Kammer soll statt des bisherigen Wahlgesetzes, das künstlicher und engher¬
ziger nicht sein könnte und einseitig die Hochstbesteuerten begünstigte, das
allgemeine direkte Wahlrecht eingeführt werden. Dies war nach der nord¬
deutschen Reichsverfassung kaum zu umgehen; immerhin ist es ein kühner
Schritt, wenn man bedenkt, wie bescheiden die Kammer selbst bisher in den


nach einer deutschen Gesetzgebung sich richten. Diese Gründe sind von Seite
des Ministertisches wie der Abgeordnetenbänke ehrlich und unbefangen ein¬
gestanden worden. Man wollte der Welt zeigen, daß auch ein Staat wie
Würtemberg noch das Zeug zu selbständigen Reformen und Gesetzesarbeiten
besitze.

Noch mehr, man will gerade durch die Reformen dem souveränen Staat,
der durch die Verträge befestigt zu einer Dauer bis ans Ende der Tage sich
anschickt, neue Lebenskräfte zuführen. Dies ist der Gedanke, der bei den
übrigen Regierungsentwürsen, welche die Verfassung und die Verwaltung
betreffen und zu welchen auch noch ein Entwurf zu einer Synodalverfassung
der evangelischen Landeskirche getreten ist, der maßgebende war. Auch die
Reform der Verfassung, namentlich was die Zusammensetzung der beiden
Kammern betrifft, ist längst ein anerkanntes Bedürfniß. Ohne daß man
großen Werth auf die berühmten 43,000 Unterschriften legen könnte, welche
für die Petition der Volkspartei von denen eingesammelt worden sind, „die
nicht preußisch werden wollen", hat der einfache Vergleich mit andern Ver¬
fassungen längst nur beschämend für uns sein können. Ungestört in unserem
Bewußtsein, einen Hort gesicherter Freiheit zu besitzen, ertrugen wir in un¬
serer Verfassung Merkwürdigkeiten, die fast nur mit Mecklenburg wetteifern
konnten. Unläugbar sollen nun Verbesserungen eingeführt werden, aber es
ist auch sofort klar, daß sie nur zögernd und zaghaft bewilligt sind, und daß
die Regierung mit tiefem Mißtrauen sich auf die schiefe Ebene des modernen
Liberalismus begeben hat. Wo ein Stück Freiheit bewilligt ist, sind auch
die Dämme verdoppelt, durch welche ihre Entfaltung eingeengt ist. Dem
Gift ist sofort wohlwollend das passende Gegengift beigesellt. Was die eine
Hand gibt, die andere nimmt es zur Hälfte zurück. Man will liberal sein
und variirt in allen Tonarten die „Forderungen der Zeit" und die „Selbst-
regierung des Volkes", aber man kann nicht lassen von den Gewohnheiten
der Bureaukratie. Man will neues einführen, aber man will nicht auf das
Alte, auf das „Liebgewordene und Eingelebte" verzichten und gelangt so zu
einer seltsamen Mischung verschiedener Systeme, durch die anstatt einer Ver¬
einfachung der Geschäfte das Gegentheil erreicht wird.

Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen, ohne daß wir uns zu einer
eingehenden Kritik von Projekten versucht fühlen, die größtentheils Projekte
bleiben werden. Für die Wahlen der 64 Bezirksabgeordneten zur zweiten
Kammer soll statt des bisherigen Wahlgesetzes, das künstlicher und engher¬
ziger nicht sein könnte und einseitig die Hochstbesteuerten begünstigte, das
allgemeine direkte Wahlrecht eingeführt werden. Dies war nach der nord¬
deutschen Reichsverfassung kaum zu umgehen; immerhin ist es ein kühner
Schritt, wenn man bedenkt, wie bescheiden die Kammer selbst bisher in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/114>, abgerufen am 28.09.2024.