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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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wird das Buch in einem Grade lesbar, wie wenige Biographien neuester
Zeit.

Und man würde sehr irren, wenn' man vermuthete, durch die geistvolle
discusflve Form dieser kunstreich ineinander gearbeiteten Essays, aus welchen
das Buch besteht, suche der Verfasser das Interesse für einen an sich spröden
und unerquicklichen Stoff gleichsam zu erschleichen. Von Kunst kann überhaupt
immer nur da die Rede sein, wo Darstellung und Inhalt sich entsprechen. Alles
Geschichtliche gibt Antwort, man muß es nur richtig anreden; und darin gerade
liegt der Hauptwerth dieser schönen und nachahmungswürdigen Arbeit,
daß sie uns überzeugt, auf diese Weise sei am erfolgreichsten zu ergründen und
darzustellen, was der überdauernde Gehalt von Winckelmanns Jugendentwick¬
lung und dem Geistesleben der Zeitgenossenschaft ist, mit der er lebte.

Es ist nicht lange her, daß man über jene Epochen des Jahrhunderts der
Aufklärung billig und objektiv urtheilen gelernt hat. Geradezu eines bewußten
sittlichen Entschlusses bedürfte die moderne Kunst- und Literaturgeschichte, um
sich mit dem Gegenstande ernstlich abzugeben. Oder ist uns das Geständnis?
erspart, daß die Geschichtsdarstellung vielfach von der Leidenschaftlichkeit der Oppo¬
sition angesteckt war. welche die Männer auszeichnete und ehrte, die im Frischer
daran arbeiteten, neuen Gesinnungen Bahn zu machen? In den bildenden
Künsten wird die gereizte Stimmung praktisch andauern, da hier die Höhe des
Könnens noch lange nicht wiedererreicht ist, die das Urtheil über Leistungen
jenes Zeitalters von dem Groll der Eifersucht befreit, aber die Wissenschaft
braucht keines Vorbehalis, sie darf und muß sich zu dem Muthe ihrer Einsicht
erheben.

Aber damit ist es nicht gethan. Zu den tiefsten Einblicken in das Wesen
historischer Erscheinungen befähigt nur die Neigung, der es eine Lust ist. sich
hineinzuversetzen in das Seelenleben vergangener Menschen, in ihre Thorheit
und Weisheit, ihr Irren und Schaffen, ihr Lieben und Hassen. Darin liegt
das Charakteristische der Biographie, darin auch die Stärke unseres Buches.
Es ist nicht Lob schlechthin, was es ausspricht, manches strenge Urtheil begegnet
uns, -- über den Confcssionswechsel z. B. denken wir milder als der Verfasser
-- aber Wärme des Herzens ist es, was allenthalben hin Licht und Farbe
spendet. Und sie erstreckt sich auch auf den wechselnden Kreis von Menschen
und Dingen, die den geliebten Mann umgaben und auf ihn einwirkten.
Durch die Armuth der Kindheit, die Täuschungen der Studienjahre, die Qual
des Schulmeisterthums, die Gelehrtenarbeiten von Nöthmtz führt Justi seinen
Helden mit der heilenden Hand mit- und ancmpsindender Freundschaft in das
fabelhafte Dresden der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, um hier die
Entfaltung eines Geistes zu belauschen, der nur wahrhaft sympathischer Be¬
rührung bedürfte, um gradauf den Flug zur Sonne zu nehmen.


wird das Buch in einem Grade lesbar, wie wenige Biographien neuester
Zeit.

Und man würde sehr irren, wenn' man vermuthete, durch die geistvolle
discusflve Form dieser kunstreich ineinander gearbeiteten Essays, aus welchen
das Buch besteht, suche der Verfasser das Interesse für einen an sich spröden
und unerquicklichen Stoff gleichsam zu erschleichen. Von Kunst kann überhaupt
immer nur da die Rede sein, wo Darstellung und Inhalt sich entsprechen. Alles
Geschichtliche gibt Antwort, man muß es nur richtig anreden; und darin gerade
liegt der Hauptwerth dieser schönen und nachahmungswürdigen Arbeit,
daß sie uns überzeugt, auf diese Weise sei am erfolgreichsten zu ergründen und
darzustellen, was der überdauernde Gehalt von Winckelmanns Jugendentwick¬
lung und dem Geistesleben der Zeitgenossenschaft ist, mit der er lebte.

Es ist nicht lange her, daß man über jene Epochen des Jahrhunderts der
Aufklärung billig und objektiv urtheilen gelernt hat. Geradezu eines bewußten
sittlichen Entschlusses bedürfte die moderne Kunst- und Literaturgeschichte, um
sich mit dem Gegenstande ernstlich abzugeben. Oder ist uns das Geständnis?
erspart, daß die Geschichtsdarstellung vielfach von der Leidenschaftlichkeit der Oppo¬
sition angesteckt war. welche die Männer auszeichnete und ehrte, die im Frischer
daran arbeiteten, neuen Gesinnungen Bahn zu machen? In den bildenden
Künsten wird die gereizte Stimmung praktisch andauern, da hier die Höhe des
Könnens noch lange nicht wiedererreicht ist, die das Urtheil über Leistungen
jenes Zeitalters von dem Groll der Eifersucht befreit, aber die Wissenschaft
braucht keines Vorbehalis, sie darf und muß sich zu dem Muthe ihrer Einsicht
erheben.

Aber damit ist es nicht gethan. Zu den tiefsten Einblicken in das Wesen
historischer Erscheinungen befähigt nur die Neigung, der es eine Lust ist. sich
hineinzuversetzen in das Seelenleben vergangener Menschen, in ihre Thorheit
und Weisheit, ihr Irren und Schaffen, ihr Lieben und Hassen. Darin liegt
das Charakteristische der Biographie, darin auch die Stärke unseres Buches.
Es ist nicht Lob schlechthin, was es ausspricht, manches strenge Urtheil begegnet
uns, — über den Confcssionswechsel z. B. denken wir milder als der Verfasser
— aber Wärme des Herzens ist es, was allenthalben hin Licht und Farbe
spendet. Und sie erstreckt sich auch auf den wechselnden Kreis von Menschen
und Dingen, die den geliebten Mann umgaben und auf ihn einwirkten.
Durch die Armuth der Kindheit, die Täuschungen der Studienjahre, die Qual
des Schulmeisterthums, die Gelehrtenarbeiten von Nöthmtz führt Justi seinen
Helden mit der heilenden Hand mit- und ancmpsindender Freundschaft in das
fabelhafte Dresden der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, um hier die
Entfaltung eines Geistes zu belauschen, der nur wahrhaft sympathischer Be¬
rührung bedürfte, um gradauf den Flug zur Sonne zu nehmen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/445>, abgerufen am 20.10.2024.