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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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ist alt, das große allgemeine Geschicke, wie sie manchen Unverdienten fördern,
so auch manchen Unschuldigen betrüben, aber in einem Falle wie dem vorliegen¬
den solcher Unbill nach Kräften abzuhelfen, ist eine ebenso ernste als angenehme
Pflicht, und überdies das eigene Interesse; denn der Schaden träfe allein uns.

Dreierlei Erfordernisse muß der Biograph Winckelmanns bei der Darstellung
seines Lebens in Deutschland vor allem erfüllen: ihm darf nicht zu viel werden,
die tausend verstreuten Notizen und Reliquien zu sammeln, die Masse von re¬
denden Zeugnissen gelehrter Vorstudien seines Mannes, interessanter und uninter¬
essanter, zu lesen und zu prüfen. Diese mühevolle und oft genug peinliche
Arbeit aber kann nur dann lohnen, wenn ihn ein gutes Maß von Congenia-
lität befähigt, in das verborgene Getriebe der minutiös und pedantisch erschei¬
nenden Thätigkeit des lernenden Winckelmann einzudringen, eine Aufgabe,
nicht unähnlich derjenigen eines Künstlerarchäologen, der aus übriggebliebenen
Händen und Waffen sich die Gestalt eines ringenden Kriegers divinatorisch
ergänzen sollte. Und auch hier wieder war Bedingung des Erfolgs die genaue
Kenntniß und die unbefangene Würdigung der geistigen Atmosphäre des Zeit¬
alters. Wie der Verfasser sich mit ungemeinem Fleiße durch encyklopädisches
Wissen ausgerüstet hat, um allen Spuren mittelbarer und unmittelbarer Ueber¬
lieferung nachzukommen, wie er in Bildung und Anschauung lebendigste
Fühlung mit seinem Helden gefunden, ist ganz persönliches Verdienst,-- in der
Würdigung der geistigen Sitten des vorigen Jahrhunderts ist ihm dagegen die
zeitgenössische Geschichtswissenschaft offenbar am förderlichsten zu Hilfe gekommen;
und dennoch möchten wir das, was er nach dieser Seite hinzugethan hat. und
besonders die Art, wie er es verwerthet, unter allen Vorzügen seiner Arbeit
fast am höchsten schätzen.

Denn wird schon durch die Organe, die man anwendet, um Fremdes sich
anzueignen, die Nichtigkeit des Verständnisses wesentlich bedingt, so hängt die
Wahrheit und Wirkung desselben in noch höherem Grade von dem Geschmack
der Darstellung ab. Und hierin hat Justi eine Methode verfolgt, die bei uns
ziemlich neu ist. Sie wird gar Vielen gewagt erscheinen und vermuthlich von
mancher sehr achtbaren Seite gelinde Verketzerung erfahren, aber sie ist ebenso
berechtigt wie eigenthümlich und verdient warmen Beifall. Wir haben bei der
Lektüre des Buches oft an Lewes' Leben Goethes und an französische Arbeiten
verwandter Art denken müssen. Was diese Darstellungen, die wir keineswegs
c;n bloc bewundern, Kunstvolles und Anziehendes haben, begegnet uns hier
in reineren und abgeklärten Zügen: warme gebildete Beredsamkeit, welche uns
beim Lesen immer in der angenehmen und anregenden Illusion des Gespräches
erhält, in dessen Verlauf nicht selten der Faden gelockert wird, das aber in
allen, auch den accidentiellstcn Wendungen, stets wohlverechnetes, zuweilen
auch überraschend effektvolles Licht über den Gegenstand verbreitet. Dadurch


ist alt, das große allgemeine Geschicke, wie sie manchen Unverdienten fördern,
so auch manchen Unschuldigen betrüben, aber in einem Falle wie dem vorliegen¬
den solcher Unbill nach Kräften abzuhelfen, ist eine ebenso ernste als angenehme
Pflicht, und überdies das eigene Interesse; denn der Schaden träfe allein uns.

Dreierlei Erfordernisse muß der Biograph Winckelmanns bei der Darstellung
seines Lebens in Deutschland vor allem erfüllen: ihm darf nicht zu viel werden,
die tausend verstreuten Notizen und Reliquien zu sammeln, die Masse von re¬
denden Zeugnissen gelehrter Vorstudien seines Mannes, interessanter und uninter¬
essanter, zu lesen und zu prüfen. Diese mühevolle und oft genug peinliche
Arbeit aber kann nur dann lohnen, wenn ihn ein gutes Maß von Congenia-
lität befähigt, in das verborgene Getriebe der minutiös und pedantisch erschei¬
nenden Thätigkeit des lernenden Winckelmann einzudringen, eine Aufgabe,
nicht unähnlich derjenigen eines Künstlerarchäologen, der aus übriggebliebenen
Händen und Waffen sich die Gestalt eines ringenden Kriegers divinatorisch
ergänzen sollte. Und auch hier wieder war Bedingung des Erfolgs die genaue
Kenntniß und die unbefangene Würdigung der geistigen Atmosphäre des Zeit¬
alters. Wie der Verfasser sich mit ungemeinem Fleiße durch encyklopädisches
Wissen ausgerüstet hat, um allen Spuren mittelbarer und unmittelbarer Ueber¬
lieferung nachzukommen, wie er in Bildung und Anschauung lebendigste
Fühlung mit seinem Helden gefunden, ist ganz persönliches Verdienst,— in der
Würdigung der geistigen Sitten des vorigen Jahrhunderts ist ihm dagegen die
zeitgenössische Geschichtswissenschaft offenbar am förderlichsten zu Hilfe gekommen;
und dennoch möchten wir das, was er nach dieser Seite hinzugethan hat. und
besonders die Art, wie er es verwerthet, unter allen Vorzügen seiner Arbeit
fast am höchsten schätzen.

Denn wird schon durch die Organe, die man anwendet, um Fremdes sich
anzueignen, die Nichtigkeit des Verständnisses wesentlich bedingt, so hängt die
Wahrheit und Wirkung desselben in noch höherem Grade von dem Geschmack
der Darstellung ab. Und hierin hat Justi eine Methode verfolgt, die bei uns
ziemlich neu ist. Sie wird gar Vielen gewagt erscheinen und vermuthlich von
mancher sehr achtbaren Seite gelinde Verketzerung erfahren, aber sie ist ebenso
berechtigt wie eigenthümlich und verdient warmen Beifall. Wir haben bei der
Lektüre des Buches oft an Lewes' Leben Goethes und an französische Arbeiten
verwandter Art denken müssen. Was diese Darstellungen, die wir keineswegs
c;n bloc bewundern, Kunstvolles und Anziehendes haben, begegnet uns hier
in reineren und abgeklärten Zügen: warme gebildete Beredsamkeit, welche uns
beim Lesen immer in der angenehmen und anregenden Illusion des Gespräches
erhält, in dessen Verlauf nicht selten der Faden gelockert wird, das aber in
allen, auch den accidentiellstcn Wendungen, stets wohlverechnetes, zuweilen
auch überraschend effektvolles Licht über den Gegenstand verbreitet. Dadurch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/444>, abgerufen am 20.10.2024.