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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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die Vergangenheit in Deutschland. Puppe und Schmetterling desselben Falters
läßt sich nicht zu gleicher Zeit aufbewahren, und da die beiden Hälften dieses
Gelehrtenlebens, jede an intensivem Gehalt so reich, wie arm an äußerlichen
Ereignissen, vor den Augen der Mitlebenden auseinanderfielen wie Nacht und
Tag. so hat Wenige gelüstet, rückwärts zu schauen; schien doch auch kein Pfad
aus dem einen Leben ins andre herüberzuleiten.

Dennoch finden fast Alle, welche ihm forschend nahetraten, einen großen,
wenn nicht den größten Reiz der Beschäftigung mit seinen Leistungen darin,
daß diese allenthalben die liebenswürdigste Persönlichkeit offenbaren. Diese
aber ist ein Ganzes, und wer selbst auch tausendmal vorgäbe, im Alter die
eigene Jugend nicht wiederzuerkennen, -- wir mögen diesen Irrthum selbst
dem Besten und Größten lieber heimgeben, als von dem Satze lassen, daß der
Mensch das historischeste Wesen sei.

Wie die Fachwissenschaft, welcher Winckelmann die ewigen Impulse ge¬
geben, stolz und gedeihlich in seinem Geiste arbeitet, so hat auch die biographi¬
sche Literatur neuerdings mit manchem schönen Beitrag zur Kunde seines
Wirkens bereichert. Hinfort kann von ihm nicht mehr die Rede sein, ohne daß
Otto Jahns gedacht wird, der gleich erfolgreich mit beiden Händen spendend
in wissenschaftlicher wie in populärer Form die großen Züge dieser mächtigen
Natur uns eingeprägt hat. Aber alle Musterleistungen solcher Art und solches
Gegenstandes machen das Verlangen nach vollständiger Kunde nur immer reger;
so wurde eine ausführliche Biographie Winckelmanns ein umso wärmeres An¬
liegen der Nation, je mehr anderseits die Vorstellungen über die Größe und
Schwierigkeit der Aufgabe sich klärte.

Seit vorigem Sommer nun sind wir im Besitze der Anfänge einer Bio¬
graphie Winckelmanns, welche darauf angelegt ist, die ungewöhnlichsten Er¬
wartungen zu befriedigen. Wir meinen Justis Winckelmann in Deutsch¬
land. Wenn die grünen Blätter, die ungern eine Gelegenheit versäumen,
des Gründers der modernen Archäologie zu gedenken, dieses Buches bisher
nur nebenbei erwähnt haben, so liegt es einzig an den Folgen der Ungunst
jener Zeit, in welcher dasselbe erschien. Den Correcturbogen des stattlichen
ersten Bandes der Arbeit, die Winckelmanns Leben. Werke und Zeitgenossen
M schildern unternimmt, wäre es auf ihrer Reise zwischen Leipzig und Mar¬
burg beinahe ergangen wie dem Mann, von welchem sie Kunde bringen, als
er auf ersehnter Fahrt nach Frankreich vor den Waffen zurückweichen mußte:
Dank dem schnellen Fluge des preußischen Adlers indeß wanderten sie unbehelligt
fast mitten durch den Krieg. Als das Buch ausgegeben wurde, fand es ein tief
aufgeregtes, zur Versenkung in ferne Geistesgeschichte schlecht angethanes Publikum.
Was es bei ruhiger Zeit ohne Zweifel alsbald erreicht haben würde, heimisch
in werden in der Nation, scheint ihm noch wenig gelungen. Die Erfahrung


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die Vergangenheit in Deutschland. Puppe und Schmetterling desselben Falters
läßt sich nicht zu gleicher Zeit aufbewahren, und da die beiden Hälften dieses
Gelehrtenlebens, jede an intensivem Gehalt so reich, wie arm an äußerlichen
Ereignissen, vor den Augen der Mitlebenden auseinanderfielen wie Nacht und
Tag. so hat Wenige gelüstet, rückwärts zu schauen; schien doch auch kein Pfad
aus dem einen Leben ins andre herüberzuleiten.

Dennoch finden fast Alle, welche ihm forschend nahetraten, einen großen,
wenn nicht den größten Reiz der Beschäftigung mit seinen Leistungen darin,
daß diese allenthalben die liebenswürdigste Persönlichkeit offenbaren. Diese
aber ist ein Ganzes, und wer selbst auch tausendmal vorgäbe, im Alter die
eigene Jugend nicht wiederzuerkennen, — wir mögen diesen Irrthum selbst
dem Besten und Größten lieber heimgeben, als von dem Satze lassen, daß der
Mensch das historischeste Wesen sei.

Wie die Fachwissenschaft, welcher Winckelmann die ewigen Impulse ge¬
geben, stolz und gedeihlich in seinem Geiste arbeitet, so hat auch die biographi¬
sche Literatur neuerdings mit manchem schönen Beitrag zur Kunde seines
Wirkens bereichert. Hinfort kann von ihm nicht mehr die Rede sein, ohne daß
Otto Jahns gedacht wird, der gleich erfolgreich mit beiden Händen spendend
in wissenschaftlicher wie in populärer Form die großen Züge dieser mächtigen
Natur uns eingeprägt hat. Aber alle Musterleistungen solcher Art und solches
Gegenstandes machen das Verlangen nach vollständiger Kunde nur immer reger;
so wurde eine ausführliche Biographie Winckelmanns ein umso wärmeres An¬
liegen der Nation, je mehr anderseits die Vorstellungen über die Größe und
Schwierigkeit der Aufgabe sich klärte.

Seit vorigem Sommer nun sind wir im Besitze der Anfänge einer Bio¬
graphie Winckelmanns, welche darauf angelegt ist, die ungewöhnlichsten Er¬
wartungen zu befriedigen. Wir meinen Justis Winckelmann in Deutsch¬
land. Wenn die grünen Blätter, die ungern eine Gelegenheit versäumen,
des Gründers der modernen Archäologie zu gedenken, dieses Buches bisher
nur nebenbei erwähnt haben, so liegt es einzig an den Folgen der Ungunst
jener Zeit, in welcher dasselbe erschien. Den Correcturbogen des stattlichen
ersten Bandes der Arbeit, die Winckelmanns Leben. Werke und Zeitgenossen
M schildern unternimmt, wäre es auf ihrer Reise zwischen Leipzig und Mar¬
burg beinahe ergangen wie dem Mann, von welchem sie Kunde bringen, als
er auf ersehnter Fahrt nach Frankreich vor den Waffen zurückweichen mußte:
Dank dem schnellen Fluge des preußischen Adlers indeß wanderten sie unbehelligt
fast mitten durch den Krieg. Als das Buch ausgegeben wurde, fand es ein tief
aufgeregtes, zur Versenkung in ferne Geistesgeschichte schlecht angethanes Publikum.
Was es bei ruhiger Zeit ohne Zweifel alsbald erreicht haben würde, heimisch
in werden in der Nation, scheint ihm noch wenig gelungen. Die Erfahrung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/443>, abgerufen am 19.10.2024.