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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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in welchen die baltischen Provinzen Rußlands, seit der Herrschaft der russisch,
democratischen Nationalpartei gerathen sind, da werden ständisch-aristocratische
Formen der Natur der Sache nach anders beurtheilt werden müssen wie in Deutsch¬
land oder sonst in Westeuropa. Daß es abnorm ist, wenn ein einziger Stand
im Besitz der politischen Repräsentation, des Rechts zur Wahl der meisten Be¬
amten, der Ausübung der ländlichen Justiz u. s. w. ist, braucht nicht erst gesagt
zu werden -- die Frage nach der rechtlichen und moralischen Zulässtgkeit eines
solchen Zustandes wird aber erst beantwortet werden können, wenn man weiß,
was für den Fall seiner Aufhebung an die Stelle treten würde. Auf diese Frage
werden wir einzugehen haben, wenn wir die gegenwärtige politische Situation
des gesammten.Ostseclandes näher ins Auge fassen -- warnen aber müssen wir
den Leser schon hier, ein vorschnelles Urtheil über Verhältnisse zu fällen, die
dick zu complicirt sind, als daß ihre Lösung durch die bloße Anwendung der
liberalen Schablone möglich wäre. --

Den Eigenthümlichkeiten Kurlands und des kurischen Wesens näher zu
treten ist uns durch den beschränkten Raum dieser Blätter versagt. Es wird
vielmehr nothwendig sein, daß wir uns weiter nach Norden wenden, um einen
^kick in die Beschaffenheit von Land und Leuten in den beiden Nachbarprovin-
zen zu werfen. -- Das breite Bett der majestätischen Dura bildet die
Grenze zwischen Kur- und Livland; hat man bei Olay die Provwzialgrcnze
überschritten und über Riga seinen Weg in das Herz Livlanbs genommen, so
befindet man sich in einer Welt, die trotz vielfacher Aehnlichkeiten mit der kuri¬
schen, doch eine andere, von jener verschiedene ist. Schon das veränderte Bild
der Landschaft erinnert den Wandrer daran, daß er weiter nach Norden vorge¬
rückt ist. Der düstere; tief-melancholische Tannenwald, der allenthalben den Ho¬
rizont umgrenzt, läßt errathen, daß der Kampf mit der Natur hier ungleich schwerer
gewesen als auf den Ebenen Kurlands, daß die Menschen zwischen Riga und
Pernau entfernter von einander wohnen und ein größeres Stuck Kulturarbeit vor
sich haben, als ihre Brüder jenseit des prächtigen Stromes, von dessen Wogen
ersten deutschen Colonisten an das baltische User getragen wurden. Umspann
Und Gefährte der Bauern, die uns begegnen, lassen auch in Livland auf einen
^wissen Wohlstand schließen -- aber dem kundigen Auge verräth der man-
lUlhafte Eiscnbcschlag der Räder bald, daß diese Wohlhabenheit eine junge, noch
werdende ist. Auch die bäuerlichen Gehöfte, die aus dem Birkengehege sichtbar
Werben, das das eintönige Dunkel der Tannen und Föhren hin und wieder
unterbricht, nehmen sich minder stattlich aus, wie in Kurland, das Strohdach
herrscht noch ziemlich allgemein vor und die frische Tünche des Schornsteins
läßt errathen, daß der gegenwärtige Inhaber des Hoff sich der altherkömm¬
lichen Nauchstube noch lebhaft erinnern kann. Statt der endlosen, nur von Bächen
durchschnittenen Ebenen, die wir drüben fanden, tritt uns hier das Bild eines


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in welchen die baltischen Provinzen Rußlands, seit der Herrschaft der russisch,
democratischen Nationalpartei gerathen sind, da werden ständisch-aristocratische
Formen der Natur der Sache nach anders beurtheilt werden müssen wie in Deutsch¬
land oder sonst in Westeuropa. Daß es abnorm ist, wenn ein einziger Stand
im Besitz der politischen Repräsentation, des Rechts zur Wahl der meisten Be¬
amten, der Ausübung der ländlichen Justiz u. s. w. ist, braucht nicht erst gesagt
zu werden — die Frage nach der rechtlichen und moralischen Zulässtgkeit eines
solchen Zustandes wird aber erst beantwortet werden können, wenn man weiß,
was für den Fall seiner Aufhebung an die Stelle treten würde. Auf diese Frage
werden wir einzugehen haben, wenn wir die gegenwärtige politische Situation
des gesammten.Ostseclandes näher ins Auge fassen — warnen aber müssen wir
den Leser schon hier, ein vorschnelles Urtheil über Verhältnisse zu fällen, die
dick zu complicirt sind, als daß ihre Lösung durch die bloße Anwendung der
liberalen Schablone möglich wäre. —

Den Eigenthümlichkeiten Kurlands und des kurischen Wesens näher zu
treten ist uns durch den beschränkten Raum dieser Blätter versagt. Es wird
vielmehr nothwendig sein, daß wir uns weiter nach Norden wenden, um einen
^kick in die Beschaffenheit von Land und Leuten in den beiden Nachbarprovin-
zen zu werfen. — Das breite Bett der majestätischen Dura bildet die
Grenze zwischen Kur- und Livland; hat man bei Olay die Provwzialgrcnze
überschritten und über Riga seinen Weg in das Herz Livlanbs genommen, so
befindet man sich in einer Welt, die trotz vielfacher Aehnlichkeiten mit der kuri¬
schen, doch eine andere, von jener verschiedene ist. Schon das veränderte Bild
der Landschaft erinnert den Wandrer daran, daß er weiter nach Norden vorge¬
rückt ist. Der düstere; tief-melancholische Tannenwald, der allenthalben den Ho¬
rizont umgrenzt, läßt errathen, daß der Kampf mit der Natur hier ungleich schwerer
gewesen als auf den Ebenen Kurlands, daß die Menschen zwischen Riga und
Pernau entfernter von einander wohnen und ein größeres Stuck Kulturarbeit vor
sich haben, als ihre Brüder jenseit des prächtigen Stromes, von dessen Wogen
ersten deutschen Colonisten an das baltische User getragen wurden. Umspann
Und Gefährte der Bauern, die uns begegnen, lassen auch in Livland auf einen
^wissen Wohlstand schließen — aber dem kundigen Auge verräth der man-
lUlhafte Eiscnbcschlag der Räder bald, daß diese Wohlhabenheit eine junge, noch
werdende ist. Auch die bäuerlichen Gehöfte, die aus dem Birkengehege sichtbar
Werben, das das eintönige Dunkel der Tannen und Föhren hin und wieder
unterbricht, nehmen sich minder stattlich aus, wie in Kurland, das Strohdach
herrscht noch ziemlich allgemein vor und die frische Tünche des Schornsteins
läßt errathen, daß der gegenwärtige Inhaber des Hoff sich der altherkömm¬
lichen Nauchstube noch lebhaft erinnern kann. Statt der endlosen, nur von Bächen
durchschnittenen Ebenen, die wir drüben fanden, tritt uns hier das Bild eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/219>, abgerufen am 20.10.2024.