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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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flusses, den auszuüben ihm das Jahrhundert längst ein Recht gegeben bat.
Kaufleute und Handwerker werden durch die Concurrenz des jüdischen Elements
zu Boden gehalten und an jeder Kraftentfaltung gehindert, der Gelehrtenstand
oder -- um den landesüblichen Ausdruck zu gebrauchen -- die "Literaten" bil¬
den eine besondere Kaste, die sich in begreiflichen Unmuth über ihre Jsolirung
und Bedeutungslosigkeit verzehrt und oft in ihren hervorragendsten Ver¬
tretern eine rein negative Stellung zu den gegebenen Zuständen einnimmt. In
der That sind alle politische Macht und aller politische Einfluß in den Händen
der Ritterschaft; ihre Delegirten bilden den Landtag und vertreten einseitig das
Provinzialintcresse, in ihre Hände ist die Wahl der Hauptleute. Oberhauptleute,
Assessoren und Oberhosgerichtsräthe gelegt, welche die Richter und ländlichen
Verwaltungsbeamten der Provinz sind -- der bürgerliche Jurist ist darauf be¬
schränkt, in den Dienst einer der städtischen Communen zu treten, Advocat zu
werden oder den einträglichen, aber jede Beförderung ausschließenden Posten
des Secretärs bei einer adligen Behörde zu übernehmen. Justiz und locale
Kreisverwaltnng sind in allen drei Ostsee-Provinzen rein ständischer Natur, nur
die Glieder der provinziellen Aufsichts- und Finanzbehörden werden vom Staat
ernannt. Während das stärker entwickelte Städteleben den Bürgerlichen Liv-
und Estlands eine selbständige Laufbahn ermöglicht, bleibt dem bürgerlichen
Juristen Kurlands, dem das Secretariat bei einer adligen Landesbehörde nicht
ansteht, nur ein Ausweg übrig, der Eintritt in den Staatsdienst, die Annahme
eines Postens in der Mitauer Gouvernements-Regierung (Aufsichtsbehörde für
Polizei und Verwaltung), im Kameralhof (Steueramt) oder im Forst- und Do-
mainenwesen, das wegen des großen Umfangs der Domainen, welche der Staat
in Kurland besitzt, eine gewisse Rolle spielt. Die Staatsbehörden Liv- und
Estlands setzen in der Regel ihre Ehre darein, mit den ständischen Autoritä¬
ten Hand in Hand zu gehen und das deutsch-protestantische Element nach Kräf¬
ten zu fördern; in Kurland dagegen fällt die Bnreaucratie nicht selten in die
Rolle der blinden Opponentin gegen Adel und Ständewesen. Der Haß gegen
die Allmacht der Ritterschaft wird zum Freibrief für die Entfremdung von den
heimischen, specifisch kurischen Interessen, die wie die Dinge einmal liegen, mit
dem der Stände zusammenfallen. .In einem Staat, dessen Hauptgcbrechen der
Mangel fester Rechtsformen ist, der keine andere Autorität als die unumschränkte
monarchische Gewalt kennt, dessen Kernbevölkcrung einem andern Stamme an¬
gehört, als dem der Träger der Cultur in unserer versprengten Colonie ist,
unter Verhältnissen, in denen die überkommene nationale Tradition in den stän¬
dischen Formen die einzige rechtliche Garantie ihrer Existenz besitzt, in einem
Lande wo der Kampf gegen den Eindruck feindlicher Elemente heiß genug tobt,
um die Wahl der Mittel zur Abwehr desselben unmöglich zu machen -- wo es
sich mit einem Worte gesagt -- um einen Nothstand handelt, wie der ist,


flusses, den auszuüben ihm das Jahrhundert längst ein Recht gegeben bat.
Kaufleute und Handwerker werden durch die Concurrenz des jüdischen Elements
zu Boden gehalten und an jeder Kraftentfaltung gehindert, der Gelehrtenstand
oder — um den landesüblichen Ausdruck zu gebrauchen — die „Literaten" bil¬
den eine besondere Kaste, die sich in begreiflichen Unmuth über ihre Jsolirung
und Bedeutungslosigkeit verzehrt und oft in ihren hervorragendsten Ver¬
tretern eine rein negative Stellung zu den gegebenen Zuständen einnimmt. In
der That sind alle politische Macht und aller politische Einfluß in den Händen
der Ritterschaft; ihre Delegirten bilden den Landtag und vertreten einseitig das
Provinzialintcresse, in ihre Hände ist die Wahl der Hauptleute. Oberhauptleute,
Assessoren und Oberhosgerichtsräthe gelegt, welche die Richter und ländlichen
Verwaltungsbeamten der Provinz sind — der bürgerliche Jurist ist darauf be¬
schränkt, in den Dienst einer der städtischen Communen zu treten, Advocat zu
werden oder den einträglichen, aber jede Beförderung ausschließenden Posten
des Secretärs bei einer adligen Behörde zu übernehmen. Justiz und locale
Kreisverwaltnng sind in allen drei Ostsee-Provinzen rein ständischer Natur, nur
die Glieder der provinziellen Aufsichts- und Finanzbehörden werden vom Staat
ernannt. Während das stärker entwickelte Städteleben den Bürgerlichen Liv-
und Estlands eine selbständige Laufbahn ermöglicht, bleibt dem bürgerlichen
Juristen Kurlands, dem das Secretariat bei einer adligen Landesbehörde nicht
ansteht, nur ein Ausweg übrig, der Eintritt in den Staatsdienst, die Annahme
eines Postens in der Mitauer Gouvernements-Regierung (Aufsichtsbehörde für
Polizei und Verwaltung), im Kameralhof (Steueramt) oder im Forst- und Do-
mainenwesen, das wegen des großen Umfangs der Domainen, welche der Staat
in Kurland besitzt, eine gewisse Rolle spielt. Die Staatsbehörden Liv- und
Estlands setzen in der Regel ihre Ehre darein, mit den ständischen Autoritä¬
ten Hand in Hand zu gehen und das deutsch-protestantische Element nach Kräf¬
ten zu fördern; in Kurland dagegen fällt die Bnreaucratie nicht selten in die
Rolle der blinden Opponentin gegen Adel und Ständewesen. Der Haß gegen
die Allmacht der Ritterschaft wird zum Freibrief für die Entfremdung von den
heimischen, specifisch kurischen Interessen, die wie die Dinge einmal liegen, mit
dem der Stände zusammenfallen. .In einem Staat, dessen Hauptgcbrechen der
Mangel fester Rechtsformen ist, der keine andere Autorität als die unumschränkte
monarchische Gewalt kennt, dessen Kernbevölkcrung einem andern Stamme an¬
gehört, als dem der Träger der Cultur in unserer versprengten Colonie ist,
unter Verhältnissen, in denen die überkommene nationale Tradition in den stän¬
dischen Formen die einzige rechtliche Garantie ihrer Existenz besitzt, in einem
Lande wo der Kampf gegen den Eindruck feindlicher Elemente heiß genug tobt,
um die Wahl der Mittel zur Abwehr desselben unmöglich zu machen — wo es
sich mit einem Worte gesagt — um einen Nothstand handelt, wie der ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/218>, abgerufen am 20.10.2024.