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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Hügellandes entgegen, das von einzelnen Höhenzügen, selbst von zwei beträcht¬
lichen Plateaus gekrönt ist. Die Flüsse sind breiter und zahlreicher und nur
dem harten Geschick des Landes, von welchem zahlreiche Burg-Ruinen ein
lebendiges Zeugniß ablegen, ist es zuzuschreiben, daß ihre Schiffbarmachung erst
heute in der Entstehung begriffen ist. -- Etwa 12 deutsche Meilen nördlich von Riga
ändert sich die Scene, wir gelangen in die reiche Flachsregion Livlands. Hier
sind die Waldungen schon zum größten Theil gelichtet, und in Aecker Ver¬
wandelt, Steingebäude mit rothen Ziegeldächern werden vorherrschend, und das
wohlhäbige stolze Aussehen des Bauern läßt errathen, daß er vom Pächter zum
Grundbesitzer geworden. Bei Wall verschwindet der blaue Rock, an welchem
der Leite erkennbar ist, an seine Stelle tritt das lange schwarze Gewand des
langhaarigen Ehlen, dem sich allerdings größere Energie und Charakterkraft
nachrühmen läßt, der sich aber gegen die Einflüsse der Cultur entschiedener ab¬
schließt als der lettische Bewohner Kurlands und des südlichen Livlands. Hier
begegnen uns die ersten Dörfer d. h. Komplexe von S bis 10 Bauernhöfen,
wie sie der geselligem Natur des Ehlen Bedürfniß sind. Immer dichter und
finsterer werden die Wälder, immer unansehnlicher und schmutziger die Bauern-
Häuser, denn obgleich der nordwestliche Theil Livlands, dank der ergiebigen
Flachscultur, zu den wohlhabendsten Gegenden des Ostseelandes zählt, stehen
seine Bewohner in Bezug auf ihre Ansprüche an Comfort und Reinlichkeit hin¬
ter den Letten zurück, wird hier noch manches Haus ohne Schornstein und mit
niedrigen, schmutzigen Fenstern gesunden, dessen Besitzer sein Vermögen nach
Tausenden zählt. Im äußersten Norden Livlands und in Estland treten Un-
reinlichkeit und Armuth immer widriger in den Vordergrund. Hier ist die
Frohne noch vor wenigen Jahren, vielleicht Monaten herrschend gewesen, das
Pachtsystem eine neue Errungenschaft, der bäuerliche Grundbesitz eine seltene
Ausnahme.

Nächst der größern Ungunst des Klimas und den undankbareren Boden¬
verhältnissen tragen der geringere Wohlstand des Adels und die Irrthümer einer
Vielgewundenen Legislation die Schuld an den noch nicht völlig überwundenen
Mängeln des agrarischen Zustandes. Betrachtet man den äußern Gang der
livländischen Agrar-Gesetzgebung, so läßt sich freilich nicht leugnen, daß dieser
vor Kurland manches voraus hat. Während dort das alte Baucrgcsetzbuch
von 1817, welches den Landmann seine persönliche Freiheit mit einer voll¬
ständigen Loslösung vom Grund und Boden und mit der Adoption des Princips
der "freien Contracte" bezahlen ließ, bis zum Eingang der sechziger Jahre in
Kraft blieb, hat es in Livland binnen neunundfünfzig Jahren nicht weniger als
vier verschiedene Gesetzbücher gegeben, welche die Beziehungen zwischen Herren
und Bauern zu regeln versuchten. Nachdem die Aufhebung der Leibeigenschaft
eine Vogelfreiheit der jeder Existenzbasis beraubten Bauern herbeigeführt und


Hügellandes entgegen, das von einzelnen Höhenzügen, selbst von zwei beträcht¬
lichen Plateaus gekrönt ist. Die Flüsse sind breiter und zahlreicher und nur
dem harten Geschick des Landes, von welchem zahlreiche Burg-Ruinen ein
lebendiges Zeugniß ablegen, ist es zuzuschreiben, daß ihre Schiffbarmachung erst
heute in der Entstehung begriffen ist. — Etwa 12 deutsche Meilen nördlich von Riga
ändert sich die Scene, wir gelangen in die reiche Flachsregion Livlands. Hier
sind die Waldungen schon zum größten Theil gelichtet, und in Aecker Ver¬
wandelt, Steingebäude mit rothen Ziegeldächern werden vorherrschend, und das
wohlhäbige stolze Aussehen des Bauern läßt errathen, daß er vom Pächter zum
Grundbesitzer geworden. Bei Wall verschwindet der blaue Rock, an welchem
der Leite erkennbar ist, an seine Stelle tritt das lange schwarze Gewand des
langhaarigen Ehlen, dem sich allerdings größere Energie und Charakterkraft
nachrühmen läßt, der sich aber gegen die Einflüsse der Cultur entschiedener ab¬
schließt als der lettische Bewohner Kurlands und des südlichen Livlands. Hier
begegnen uns die ersten Dörfer d. h. Komplexe von S bis 10 Bauernhöfen,
wie sie der geselligem Natur des Ehlen Bedürfniß sind. Immer dichter und
finsterer werden die Wälder, immer unansehnlicher und schmutziger die Bauern-
Häuser, denn obgleich der nordwestliche Theil Livlands, dank der ergiebigen
Flachscultur, zu den wohlhabendsten Gegenden des Ostseelandes zählt, stehen
seine Bewohner in Bezug auf ihre Ansprüche an Comfort und Reinlichkeit hin¬
ter den Letten zurück, wird hier noch manches Haus ohne Schornstein und mit
niedrigen, schmutzigen Fenstern gesunden, dessen Besitzer sein Vermögen nach
Tausenden zählt. Im äußersten Norden Livlands und in Estland treten Un-
reinlichkeit und Armuth immer widriger in den Vordergrund. Hier ist die
Frohne noch vor wenigen Jahren, vielleicht Monaten herrschend gewesen, das
Pachtsystem eine neue Errungenschaft, der bäuerliche Grundbesitz eine seltene
Ausnahme.

Nächst der größern Ungunst des Klimas und den undankbareren Boden¬
verhältnissen tragen der geringere Wohlstand des Adels und die Irrthümer einer
Vielgewundenen Legislation die Schuld an den noch nicht völlig überwundenen
Mängeln des agrarischen Zustandes. Betrachtet man den äußern Gang der
livländischen Agrar-Gesetzgebung, so läßt sich freilich nicht leugnen, daß dieser
vor Kurland manches voraus hat. Während dort das alte Baucrgcsetzbuch
von 1817, welches den Landmann seine persönliche Freiheit mit einer voll¬
ständigen Loslösung vom Grund und Boden und mit der Adoption des Princips
der „freien Contracte" bezahlen ließ, bis zum Eingang der sechziger Jahre in
Kraft blieb, hat es in Livland binnen neunundfünfzig Jahren nicht weniger als
vier verschiedene Gesetzbücher gegeben, welche die Beziehungen zwischen Herren
und Bauern zu regeln versuchten. Nachdem die Aufhebung der Leibeigenschaft
eine Vogelfreiheit der jeder Existenzbasis beraubten Bauern herbeigeführt und


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[0220] Hügellandes entgegen, das von einzelnen Höhenzügen, selbst von zwei beträcht¬ lichen Plateaus gekrönt ist. Die Flüsse sind breiter und zahlreicher und nur dem harten Geschick des Landes, von welchem zahlreiche Burg-Ruinen ein lebendiges Zeugniß ablegen, ist es zuzuschreiben, daß ihre Schiffbarmachung erst heute in der Entstehung begriffen ist. — Etwa 12 deutsche Meilen nördlich von Riga ändert sich die Scene, wir gelangen in die reiche Flachsregion Livlands. Hier sind die Waldungen schon zum größten Theil gelichtet, und in Aecker Ver¬ wandelt, Steingebäude mit rothen Ziegeldächern werden vorherrschend, und das wohlhäbige stolze Aussehen des Bauern läßt errathen, daß er vom Pächter zum Grundbesitzer geworden. Bei Wall verschwindet der blaue Rock, an welchem der Leite erkennbar ist, an seine Stelle tritt das lange schwarze Gewand des langhaarigen Ehlen, dem sich allerdings größere Energie und Charakterkraft nachrühmen läßt, der sich aber gegen die Einflüsse der Cultur entschiedener ab¬ schließt als der lettische Bewohner Kurlands und des südlichen Livlands. Hier begegnen uns die ersten Dörfer d. h. Komplexe von S bis 10 Bauernhöfen, wie sie der geselligem Natur des Ehlen Bedürfniß sind. Immer dichter und finsterer werden die Wälder, immer unansehnlicher und schmutziger die Bauern- Häuser, denn obgleich der nordwestliche Theil Livlands, dank der ergiebigen Flachscultur, zu den wohlhabendsten Gegenden des Ostseelandes zählt, stehen seine Bewohner in Bezug auf ihre Ansprüche an Comfort und Reinlichkeit hin¬ ter den Letten zurück, wird hier noch manches Haus ohne Schornstein und mit niedrigen, schmutzigen Fenstern gesunden, dessen Besitzer sein Vermögen nach Tausenden zählt. Im äußersten Norden Livlands und in Estland treten Un- reinlichkeit und Armuth immer widriger in den Vordergrund. Hier ist die Frohne noch vor wenigen Jahren, vielleicht Monaten herrschend gewesen, das Pachtsystem eine neue Errungenschaft, der bäuerliche Grundbesitz eine seltene Ausnahme. Nächst der größern Ungunst des Klimas und den undankbareren Boden¬ verhältnissen tragen der geringere Wohlstand des Adels und die Irrthümer einer Vielgewundenen Legislation die Schuld an den noch nicht völlig überwundenen Mängeln des agrarischen Zustandes. Betrachtet man den äußern Gang der livländischen Agrar-Gesetzgebung, so läßt sich freilich nicht leugnen, daß dieser vor Kurland manches voraus hat. Während dort das alte Baucrgcsetzbuch von 1817, welches den Landmann seine persönliche Freiheit mit einer voll¬ ständigen Loslösung vom Grund und Boden und mit der Adoption des Princips der „freien Contracte" bezahlen ließ, bis zum Eingang der sechziger Jahre in Kraft blieb, hat es in Livland binnen neunundfünfzig Jahren nicht weniger als vier verschiedene Gesetzbücher gegeben, welche die Beziehungen zwischen Herren und Bauern zu regeln versuchten. Nachdem die Aufhebung der Leibeigenschaft eine Vogelfreiheit der jeder Existenzbasis beraubten Bauern herbeigeführt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/220>, abgerufen am 20.10.2024.