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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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er hat einen lebhast entwickelten Sinn für alles, was das Leben an Lust und
Freude bietet, er verschmäht es nicht, in die Besprechung der ernstesten Lebens¬
fragen gelegentlich eine derb-humoristische Wendung einzuführen, er weiß häusig
mit der Jagdflinte eben so gut umzugehen wie mit Postille, Heuchelei und
Scheinthuerei sind ihm ebenso zuwider, wie unfruchtbare theoretische Erörterun¬
gen und er macht kein Geheimniß daraus, daß ihm "Probiren über studiren
geht". Wer die urkräftiger, derben Gestalten dieser Prediger zum erstenmale
steht, wird meinen, in eine Gesellschaft lebenslustiger Bischöfe des Mittelalters
gerathen zu sein und kaum glauben wollen, daß diese Männer an sittlichem
Ernst, energischer Arbeitskraft und Treue des Bcrufscisers ihren gravitätisch¬
salbungsvollen Amtsbrüdern in Deutschland schlechterdings nichts nachgeben, ja
an Unabhängigkeit der Gesinnung häufig über denselben stehen und in sehr
dielen Fällen ungleich glücklichere Seelsorger sind als jene. Die kurländischen
Geistlichen sind Volkslehrer im besten Sinne des Worts und halten die Erfül¬
lung der Pflicht der Volksbildung für wichtiger als alle Beschäftigung mit
dogmatischen Spitzfindigkeiten. Die Zeiten in denen sie blos gute Cumpcme und
Jagdgenossen ihrer adligen Nachbarn waren"sind längst vorüber. Die Förde¬
rung der Volksbildung wird in neuerer Zeit von Adel und Geistlichkeit als
Ehrensache des gcsaMmtcn Landes angesehen und der Gutsbesitzer, der irgend
darauf Anspruch machen will, für einen guten Patrioten zu gelten, kann nicht
umhin, den Gehalt des Gemeindeschulmeisters mindestens zur Hälfte aus dem
eigenen Säckel zu bereiten. Aus Kosten der Ritterschaft besteht seit nunmehr
^7 Jahren ein Volkslehrerseminar zu Jrmelau, das unter der Leitung des Ge-
neralsuperintendenten und seines Directors, eines aus Preußen berufenen aus¬
gezeichneten Schulmanns, reichen Segen gestiftet und dafür gesorgt hat, daß
es in Kurland kaum einen jüngern Bauern giebt, der außer Lesen, Schreiben
und Katechismus nicht auch die Anfangsgründe der Arithmetik, Geographie
und Geschichte kennen gelernt hätte. Man wird es in Deutschland für eine
Fabel halten, wenn wir auf eigene Erlebnisse gestützt, berichten, daß die zahl¬
reichen pommerischen und mecklenburgischen Bauerknechte, welche während der
letzten Decennien nach Liv" und Kurland gezogen worden sind, den Letten häufig
durch ihre Roheit und Unwissenheit Anstoß gegeben haben!

Es ist bereits in dem ersten der vorliegenden Beiträge zur Kenntniß von
Land und Leuten an der Ostsee hervorgehoben worden, daß der Mangel eines
selbständigen Bürgerthums in Kurland von Alters her der Krebsschaden ist, an
dem diese sonst so begünstigte Landschaft krankt. In neuerer Zeit hat derselbe
einen besonders bedrohlichen Charakter angenommen, und zu einer ständischen
Spaltung geführt, deren Gefahren in der That ernstester Art sind. Bei der
Unbedeutendheit und Armuth der meist von Juden überfüllten Landstädte ent¬
behrt das Bürgerthum der natürlichen Wurzeln seiner Existenz und des Ein-


Grenzboten IV. 18K7. 28

er hat einen lebhast entwickelten Sinn für alles, was das Leben an Lust und
Freude bietet, er verschmäht es nicht, in die Besprechung der ernstesten Lebens¬
fragen gelegentlich eine derb-humoristische Wendung einzuführen, er weiß häusig
mit der Jagdflinte eben so gut umzugehen wie mit Postille, Heuchelei und
Scheinthuerei sind ihm ebenso zuwider, wie unfruchtbare theoretische Erörterun¬
gen und er macht kein Geheimniß daraus, daß ihm „Probiren über studiren
geht". Wer die urkräftiger, derben Gestalten dieser Prediger zum erstenmale
steht, wird meinen, in eine Gesellschaft lebenslustiger Bischöfe des Mittelalters
gerathen zu sein und kaum glauben wollen, daß diese Männer an sittlichem
Ernst, energischer Arbeitskraft und Treue des Bcrufscisers ihren gravitätisch¬
salbungsvollen Amtsbrüdern in Deutschland schlechterdings nichts nachgeben, ja
an Unabhängigkeit der Gesinnung häufig über denselben stehen und in sehr
dielen Fällen ungleich glücklichere Seelsorger sind als jene. Die kurländischen
Geistlichen sind Volkslehrer im besten Sinne des Worts und halten die Erfül¬
lung der Pflicht der Volksbildung für wichtiger als alle Beschäftigung mit
dogmatischen Spitzfindigkeiten. Die Zeiten in denen sie blos gute Cumpcme und
Jagdgenossen ihrer adligen Nachbarn waren„sind längst vorüber. Die Förde¬
rung der Volksbildung wird in neuerer Zeit von Adel und Geistlichkeit als
Ehrensache des gcsaMmtcn Landes angesehen und der Gutsbesitzer, der irgend
darauf Anspruch machen will, für einen guten Patrioten zu gelten, kann nicht
umhin, den Gehalt des Gemeindeschulmeisters mindestens zur Hälfte aus dem
eigenen Säckel zu bereiten. Aus Kosten der Ritterschaft besteht seit nunmehr
^7 Jahren ein Volkslehrerseminar zu Jrmelau, das unter der Leitung des Ge-
neralsuperintendenten und seines Directors, eines aus Preußen berufenen aus¬
gezeichneten Schulmanns, reichen Segen gestiftet und dafür gesorgt hat, daß
es in Kurland kaum einen jüngern Bauern giebt, der außer Lesen, Schreiben
und Katechismus nicht auch die Anfangsgründe der Arithmetik, Geographie
und Geschichte kennen gelernt hätte. Man wird es in Deutschland für eine
Fabel halten, wenn wir auf eigene Erlebnisse gestützt, berichten, daß die zahl¬
reichen pommerischen und mecklenburgischen Bauerknechte, welche während der
letzten Decennien nach Liv« und Kurland gezogen worden sind, den Letten häufig
durch ihre Roheit und Unwissenheit Anstoß gegeben haben!

Es ist bereits in dem ersten der vorliegenden Beiträge zur Kenntniß von
Land und Leuten an der Ostsee hervorgehoben worden, daß der Mangel eines
selbständigen Bürgerthums in Kurland von Alters her der Krebsschaden ist, an
dem diese sonst so begünstigte Landschaft krankt. In neuerer Zeit hat derselbe
einen besonders bedrohlichen Charakter angenommen, und zu einer ständischen
Spaltung geführt, deren Gefahren in der That ernstester Art sind. Bei der
Unbedeutendheit und Armuth der meist von Juden überfüllten Landstädte ent¬
behrt das Bürgerthum der natürlichen Wurzeln seiner Existenz und des Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/217>, abgerufen am 20.10.2024.