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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Verarmung und Verwilderung des Adels wegen, das Joch der Leibeigenschaft
mit doppelter Schwere lastete, die Kirchen und Schulen verfielen, keiner der
wenigen übrig gebliebenen protestantischen Geistlichen war seines Lebens sicher,
die Städte waren durch die Noth immer wiederkehrender Belagerungen verwü¬
stet und verarmt, Handel und Gewerbe stockten, die von den Landmeistern sorg¬
fältig angelegten Wege und Heerstraßen verfielen -- ein Zustand allgemeiner
Auflösung trat an die Stelle der bis dazu wenigstens äußerlich geordneten Ver¬
hältnisse. Erst durch die Leiden eines neuen, fast dreißigjährigen Krieges sollte
die Wandlung zu einem erträglichem Zustande ermöglicht werden. -- Sigismund lit
von Polen und Schweden wurde wegen seines Uebertntts zur katholischen
Kirche im Jahre 1600 durch die schwedischen Stände für der Krone verlustig
erklärt, sein Oheim Karl IX., zum Reichsverweser, später zum Könige gewählt.
Der schwedisch-polnische Erbfolgekrieg, den erst Gustav Adolf siegreich zu Ende
führte, und der zum größten Theil in Livland ausgekämpft wurde, war die
Folge dieser Staatsveränderung. Schon 1602 mußte der größte Theil des
livländischen Adels Karl IX., der seine Privilegien bestätigte, huldigen, 1629
war Livland eine schwedische Provinz; nur die südöstlichen Kreise des Landes
mit den Vogteyen Dünaburg, Roitten, Lützen und Marienhausen verblieben
den Polen: diese haben dieselben so vollständig zu assimiliren gewußt, daß die¬
ser Landstrich in welchem man sich vergeblich nach Spuren deutsch-protestanti¬
schen Lebens umsieht, noch heute "Polnisch-Livland" heißt. Dafür wurde
die Insel Oisel, die bei der Auflösung des alten Bundes an die Dänen ver¬
loren gegangen war, mit Livland wieder vereinigt. -- Estland war, wie wir
wissen, schon früher schwedisch geworden und hatte sich unter dem humanen
Scepter der protestantischen Fürsten dieses Reichs, das die Rechte und die
Nationalität seiner neuen Unterthanen sorgfältig schonte, ungleich besser befun¬
den, als die südlichere Schwesterprovinz, mit welcher es nun wieder vereinigt
wurde. Das günstigste Loos war aber dem Herzogthum Kurland zugefallen,
dessen weiser Fürst Gotthard Kettler seine Unterthanen mit seltenem Geschick vor
polnischen Eingriffen zu schützen und von den Kriegshändeln in den Nachbar¬
ländern fern zu halten gewußt hatte. Mit Hilfe feines verdienstvollen Kanz¬
lers Salomon Henning reorganiflrte der Herzog Rechtspflege und Verwaltung
seines Ländchens und entwarf er eine Kirchenordnung, die zu den besten ihrer
Zeit gehörte. Hier war der Bauer ungleich günstiger gestellt als nördlich^ von
der Dura; eine zahlreiche, gebildete Geistlichkeit legte die Grundlagen echter
Gesittung, die Wohlhabenheit des Adels, die Gunst eines mildern Klimas und
die größere Fruchtbarkeit des Landes, vor allem das gute Beispiel, welches
der Herzog auf seinen zahlreichen Domänen gab, gestalteten die bäuerlichen
Verhältnisse trotz der Fortdauer der Leibeigenschaft zu einem mindestens ertrag'
lichen Zustande. Dazu kam, daß die 1861 begründeten Zustände 134 Jahre


Verarmung und Verwilderung des Adels wegen, das Joch der Leibeigenschaft
mit doppelter Schwere lastete, die Kirchen und Schulen verfielen, keiner der
wenigen übrig gebliebenen protestantischen Geistlichen war seines Lebens sicher,
die Städte waren durch die Noth immer wiederkehrender Belagerungen verwü¬
stet und verarmt, Handel und Gewerbe stockten, die von den Landmeistern sorg¬
fältig angelegten Wege und Heerstraßen verfielen — ein Zustand allgemeiner
Auflösung trat an die Stelle der bis dazu wenigstens äußerlich geordneten Ver¬
hältnisse. Erst durch die Leiden eines neuen, fast dreißigjährigen Krieges sollte
die Wandlung zu einem erträglichem Zustande ermöglicht werden. — Sigismund lit
von Polen und Schweden wurde wegen seines Uebertntts zur katholischen
Kirche im Jahre 1600 durch die schwedischen Stände für der Krone verlustig
erklärt, sein Oheim Karl IX., zum Reichsverweser, später zum Könige gewählt.
Der schwedisch-polnische Erbfolgekrieg, den erst Gustav Adolf siegreich zu Ende
führte, und der zum größten Theil in Livland ausgekämpft wurde, war die
Folge dieser Staatsveränderung. Schon 1602 mußte der größte Theil des
livländischen Adels Karl IX., der seine Privilegien bestätigte, huldigen, 1629
war Livland eine schwedische Provinz; nur die südöstlichen Kreise des Landes
mit den Vogteyen Dünaburg, Roitten, Lützen und Marienhausen verblieben
den Polen: diese haben dieselben so vollständig zu assimiliren gewußt, daß die¬
ser Landstrich in welchem man sich vergeblich nach Spuren deutsch-protestanti¬
schen Lebens umsieht, noch heute „Polnisch-Livland" heißt. Dafür wurde
die Insel Oisel, die bei der Auflösung des alten Bundes an die Dänen ver¬
loren gegangen war, mit Livland wieder vereinigt. — Estland war, wie wir
wissen, schon früher schwedisch geworden und hatte sich unter dem humanen
Scepter der protestantischen Fürsten dieses Reichs, das die Rechte und die
Nationalität seiner neuen Unterthanen sorgfältig schonte, ungleich besser befun¬
den, als die südlichere Schwesterprovinz, mit welcher es nun wieder vereinigt
wurde. Das günstigste Loos war aber dem Herzogthum Kurland zugefallen,
dessen weiser Fürst Gotthard Kettler seine Unterthanen mit seltenem Geschick vor
polnischen Eingriffen zu schützen und von den Kriegshändeln in den Nachbar¬
ländern fern zu halten gewußt hatte. Mit Hilfe feines verdienstvollen Kanz¬
lers Salomon Henning reorganiflrte der Herzog Rechtspflege und Verwaltung
seines Ländchens und entwarf er eine Kirchenordnung, die zu den besten ihrer
Zeit gehörte. Hier war der Bauer ungleich günstiger gestellt als nördlich^ von
der Dura; eine zahlreiche, gebildete Geistlichkeit legte die Grundlagen echter
Gesittung, die Wohlhabenheit des Adels, die Gunst eines mildern Klimas und
die größere Fruchtbarkeit des Landes, vor allem das gute Beispiel, welches
der Herzog auf seinen zahlreichen Domänen gab, gestalteten die bäuerlichen
Verhältnisse trotz der Fortdauer der Leibeigenschaft zu einem mindestens ertrag'
lichen Zustande. Dazu kam, daß die 1861 begründeten Zustände 134 Jahre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/178>, abgerufen am 20.10.2024.