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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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dieselben blieben und Kurlands Selbständigkeit erst im Jahre 1795 aufhörte.
Ein selten unterbrochener Frieden förderte Ackerbau und Viehzucht und begrün¬
dete einen Wohlstand, der mit der Zeit so beträchtlich wurde, daß (nach dem
Ausdruck eines Historikers) im 17.'und 18. Jahrhundert selbst die tucischen
Bettler zweispännig fuhren. Aber ein Uebelstand ernstester Art stellte Dauer
und Zukunft der Zustände Kurlands doch wieder in Frage: der Mangel eines
tüchtigen, selbständigen Bürgerstandes, eines ausgebildeten Städtewesens. Der
Adel herrschte aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens so unumschränkt, daß
die Herzoge mit ihm rechnen und auf die Entwickelung eines wirklichen Staats¬
lebens verzichten mußten. Die verhältnißmäßig zahlreichen Städte waren klein
und bedeutungslos, ihren Bewohnern mangelte jener tüchtige, auf das Bewußt¬
sein des eigenen Werths gegründete Bürgersinn, den manschen jenseit der Dünn
ebenso entwickelt fand, wie in Deutschland, sie kamen niemals über die Sorge
für ihre nächsten Interessen hinaus. Der Handel war höchst unbedeutend, das
Gewerbe nährte sich von den Bedürfnissen der Barone, die Stelle des Bürger-
thums vertrat (vom 17. Jahrhundert ab) eine Classe, die der "Literaten",
d. h. gelehrter Bürgerlicher, die als Prediger, Aerzte, Juristen u. s. w. einen
besondern Stand, nach Hippels geistreichem Ausdruck den "Rinnstein" zwischen
Edelmann und Bauer, bildeten. Kein Wunder, baß die Selbstherrlichkeit des
Adels, dem jedes Gegengewicht mangelte, maßlos aufschoß, und daß das Bür-
gerthum Kurlands noch heute nicht dazu gelangt ist, sich die Grundlagen einer
ebenbürtigen und selbständigen Existenz zu begründen.

Doch wir müssen zu Livland, dem Herzen und Schmerzensträgcr der drei¬
einigen deutschen Eolonie zurückkehren. Die. fast hundertjährige schwedische
Herrschaft in diesem Lande zerfällt in zwei durch den Regierungsantritt Karls IX.
scharf von einander geschiedene Hälften -- eine in vielfacher Beziehung segens¬
reiche und eine unglückliche, leidensvolle Periode, wie sie kaum zu polnischer
Zeit hätte schlimmer sein können. Zunächst war des Jubels darüber, daß
Man der argen Polenwirthschaft entronnen und in einen protestantischen Staats¬
verband getreten war, kein Ende. Gustav Adolf hatte Livland in der That
ZU danken, daß es Cultureinflüssen gerettet und dem Zustande der Barbarei
entrissen war. Die erste Sorge des weisen, großherzigen Fürsten war die Wie¬
derherstellung des am Rande des Abgrundes stehenden lutherischen Kirchenwesens.
Eine allgemeine Kirchenvisitation stellte die Nothwendigkeit eines Neubaus von
Grund aus, fest; die Gotteshäuser lagen in Trümmern, die Schulen auf dem
stachen Lande waren sein Menschengedenken geschlossen; da es allenthalben an
Geistlichen mangelte, wurde Kenntniß der reinen Lehre bei den Bauern ebenso
wenig gefunden, wie Zucht und Sitte. Hier griff der große König mit der
Vollen Energie seines mächtigen Willens ein. Zum Segen des Landes führte
^ die schwedische Kirchenordnung ein, deren Grundprincipien bis auf die Ge-


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dieselben blieben und Kurlands Selbständigkeit erst im Jahre 1795 aufhörte.
Ein selten unterbrochener Frieden förderte Ackerbau und Viehzucht und begrün¬
dete einen Wohlstand, der mit der Zeit so beträchtlich wurde, daß (nach dem
Ausdruck eines Historikers) im 17.'und 18. Jahrhundert selbst die tucischen
Bettler zweispännig fuhren. Aber ein Uebelstand ernstester Art stellte Dauer
und Zukunft der Zustände Kurlands doch wieder in Frage: der Mangel eines
tüchtigen, selbständigen Bürgerstandes, eines ausgebildeten Städtewesens. Der
Adel herrschte aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens so unumschränkt, daß
die Herzoge mit ihm rechnen und auf die Entwickelung eines wirklichen Staats¬
lebens verzichten mußten. Die verhältnißmäßig zahlreichen Städte waren klein
und bedeutungslos, ihren Bewohnern mangelte jener tüchtige, auf das Bewußt¬
sein des eigenen Werths gegründete Bürgersinn, den manschen jenseit der Dünn
ebenso entwickelt fand, wie in Deutschland, sie kamen niemals über die Sorge
für ihre nächsten Interessen hinaus. Der Handel war höchst unbedeutend, das
Gewerbe nährte sich von den Bedürfnissen der Barone, die Stelle des Bürger-
thums vertrat (vom 17. Jahrhundert ab) eine Classe, die der „Literaten",
d. h. gelehrter Bürgerlicher, die als Prediger, Aerzte, Juristen u. s. w. einen
besondern Stand, nach Hippels geistreichem Ausdruck den „Rinnstein" zwischen
Edelmann und Bauer, bildeten. Kein Wunder, baß die Selbstherrlichkeit des
Adels, dem jedes Gegengewicht mangelte, maßlos aufschoß, und daß das Bür-
gerthum Kurlands noch heute nicht dazu gelangt ist, sich die Grundlagen einer
ebenbürtigen und selbständigen Existenz zu begründen.

Doch wir müssen zu Livland, dem Herzen und Schmerzensträgcr der drei¬
einigen deutschen Eolonie zurückkehren. Die. fast hundertjährige schwedische
Herrschaft in diesem Lande zerfällt in zwei durch den Regierungsantritt Karls IX.
scharf von einander geschiedene Hälften — eine in vielfacher Beziehung segens¬
reiche und eine unglückliche, leidensvolle Periode, wie sie kaum zu polnischer
Zeit hätte schlimmer sein können. Zunächst war des Jubels darüber, daß
Man der argen Polenwirthschaft entronnen und in einen protestantischen Staats¬
verband getreten war, kein Ende. Gustav Adolf hatte Livland in der That
ZU danken, daß es Cultureinflüssen gerettet und dem Zustande der Barbarei
entrissen war. Die erste Sorge des weisen, großherzigen Fürsten war die Wie¬
derherstellung des am Rande des Abgrundes stehenden lutherischen Kirchenwesens.
Eine allgemeine Kirchenvisitation stellte die Nothwendigkeit eines Neubaus von
Grund aus, fest; die Gotteshäuser lagen in Trümmern, die Schulen auf dem
stachen Lande waren sein Menschengedenken geschlossen; da es allenthalben an
Geistlichen mangelte, wurde Kenntniß der reinen Lehre bei den Bauern ebenso
wenig gefunden, wie Zucht und Sitte. Hier griff der große König mit der
Vollen Energie seines mächtigen Willens ein. Zum Segen des Landes führte
^ die schwedische Kirchenordnung ein, deren Grundprincipien bis auf die Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/179>, abgerufen am 27.09.2024.