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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Auch die in einfachen Culturzuständen unverhältnißmäßig hohe Ziffer der
Selbstmorde (einer auf circa 5,600 Lebende) fordert zu ernstem Nachdenken auf.
So viel wenigstens steht fest, auch diese wenigen Zahlen genüge", den unter¬
höhlten und ungesunden Boden unsres Volkslebens in grelle Beleuchtung zu
setzen. Und kränklich, schadhaft, unzureichend wie die Grundlagen, ist der
ganze Bau.

Der Zustand der Volksschulen ist nach den obigen Angaben über die
Stellung ihrer Lehrer leicht auszumalen. Die einzige höhere öffentliche Bil¬
dungsanstalt, das Landesgymnasium, in wenig ersprießlicher Verbindung mit
einer Realschule, steckt in Korbach, dem Centralpunkte der walbcckschen Land-
Wirthschaft; es nach Arolsen zu verpflanzen, fehlen die Mittel. An sonstigen
Anstalten zur Förderung geistigen Lebens mangelt es fast gänzlich, weder Staat,
noch Private sind im Staude, sie zu schaffen; kaum das? ein paar Leihbiblio¬
theken die hervorragenderen Erzeugnisse der Belletristik zugänglich machen. Von
einem "Verein für waldecksche Geschichte" und ähnlichen Gesellschaften wird
man einen wirklichen Nutzen für die Wissenschaft im Ernst nicht erwarten. Auch
die Kunst hat in unsern Bergen keine Stätte. Anderwärts ist es das schöne
Vorrecht hochsinniger Fürsten, den Musen ein eifriger Beschützer, emporstrebenden
Talenten ein wohlwollender Helfer zu sein, hier verbieten die schmalen Revenüen
auch den nothwendigsten Luxus. Das zwei von Deutschlands namhaftesten
neuern Künstlern, Rauch und Kaulbach, dem Boden unsrer Residenz entsprossen,
ist wahrhaftig ni.de unsre Schuld. Wer von unsern Landeskindern etwas
werden will, der schnürt sein Bündel und wandert in die weite Welt. Da erst
wird dem staunenden Blicke offenbar das wunderbare, gewaltige Getriebe des
Völkerlebens, da erst schaut er die Ideale, würdig, el" Leben an sie zu wagen,
da erst breitet sich der Raum, auf welchem der Ehrgeiz sich tummeln, die Kraft
des Einzelnen sich erproben und sMlcn mag, da auch winkt dem redlichen
Streben die sichere Belohnung. Was Wunder, daß nur wenige wiederkehren
in die heimathlichen Thäler? Unter diesen Wenigen aber sind gar oft der
Besten einige. Umhergewanbert in Nord und Süd, gebildet auf den ersten
Hochschulen, haben sie eine andere Anschauung vom Leben gewonnen, als sie
der enge Gesichtskreis der Heimath ihnen eingepflanzt; nun werde" sie wieder
eingeklemmt zwischen die schwarzrothgoldnen Grenzpfähle, die Eine" u"ter hef¬
tigem Murren und Zähneknirschen, in stummer Resignation die Anderen. Wer
kanns ändern? Jene verbittern, diese versäuern. --

Es ist ein düsteres Gemälde, das wir entworfen, aber es trägt die derben
Farben der Wirklichkeit. Anders freilich gestaltet sich unsere Welt vor den
Augen der guten Gesellschaft unsrer Residenz. Ausgeschlossen vom großen Leben,
ohne die Verantwortlichkeit für eine bedeutende Aufgabe inmitten desselben,
fühlt man sich dort um so eher getrieben, über den Gang der Dinge zu Ge-


Auch die in einfachen Culturzuständen unverhältnißmäßig hohe Ziffer der
Selbstmorde (einer auf circa 5,600 Lebende) fordert zu ernstem Nachdenken auf.
So viel wenigstens steht fest, auch diese wenigen Zahlen genüge», den unter¬
höhlten und ungesunden Boden unsres Volkslebens in grelle Beleuchtung zu
setzen. Und kränklich, schadhaft, unzureichend wie die Grundlagen, ist der
ganze Bau.

Der Zustand der Volksschulen ist nach den obigen Angaben über die
Stellung ihrer Lehrer leicht auszumalen. Die einzige höhere öffentliche Bil¬
dungsanstalt, das Landesgymnasium, in wenig ersprießlicher Verbindung mit
einer Realschule, steckt in Korbach, dem Centralpunkte der walbcckschen Land-
Wirthschaft; es nach Arolsen zu verpflanzen, fehlen die Mittel. An sonstigen
Anstalten zur Förderung geistigen Lebens mangelt es fast gänzlich, weder Staat,
noch Private sind im Staude, sie zu schaffen; kaum das? ein paar Leihbiblio¬
theken die hervorragenderen Erzeugnisse der Belletristik zugänglich machen. Von
einem „Verein für waldecksche Geschichte" und ähnlichen Gesellschaften wird
man einen wirklichen Nutzen für die Wissenschaft im Ernst nicht erwarten. Auch
die Kunst hat in unsern Bergen keine Stätte. Anderwärts ist es das schöne
Vorrecht hochsinniger Fürsten, den Musen ein eifriger Beschützer, emporstrebenden
Talenten ein wohlwollender Helfer zu sein, hier verbieten die schmalen Revenüen
auch den nothwendigsten Luxus. Das zwei von Deutschlands namhaftesten
neuern Künstlern, Rauch und Kaulbach, dem Boden unsrer Residenz entsprossen,
ist wahrhaftig ni.de unsre Schuld. Wer von unsern Landeskindern etwas
werden will, der schnürt sein Bündel und wandert in die weite Welt. Da erst
wird dem staunenden Blicke offenbar das wunderbare, gewaltige Getriebe des
Völkerlebens, da erst schaut er die Ideale, würdig, el» Leben an sie zu wagen,
da erst breitet sich der Raum, auf welchem der Ehrgeiz sich tummeln, die Kraft
des Einzelnen sich erproben und sMlcn mag, da auch winkt dem redlichen
Streben die sichere Belohnung. Was Wunder, daß nur wenige wiederkehren
in die heimathlichen Thäler? Unter diesen Wenigen aber sind gar oft der
Besten einige. Umhergewanbert in Nord und Süd, gebildet auf den ersten
Hochschulen, haben sie eine andere Anschauung vom Leben gewonnen, als sie
der enge Gesichtskreis der Heimath ihnen eingepflanzt; nun werde» sie wieder
eingeklemmt zwischen die schwarzrothgoldnen Grenzpfähle, die Eine» u»ter hef¬
tigem Murren und Zähneknirschen, in stummer Resignation die Anderen. Wer
kanns ändern? Jene verbittern, diese versäuern. —

Es ist ein düsteres Gemälde, das wir entworfen, aber es trägt die derben
Farben der Wirklichkeit. Anders freilich gestaltet sich unsere Welt vor den
Augen der guten Gesellschaft unsrer Residenz. Ausgeschlossen vom großen Leben,
ohne die Verantwortlichkeit für eine bedeutende Aufgabe inmitten desselben,
fühlt man sich dort um so eher getrieben, über den Gang der Dinge zu Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/68>, abgerufen am 22.07.2024.