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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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gutgeartete Kinder gesehen, aber schon in jungen Jahren fehle eine gewisse
Offenheit, ein wahrhaft kindliches, rückhaltloses Benehmen.

Die Intelligenz, die sehr früh erwacht und bei Kindern von zwei bis drei
Jahren oft schon staunenswerth ist, erreicht schnell eine gewisse Höhe, aber
dann bleibt sie in der Stagnation. <lou2ö ans, ils n'avimeent plus."
Mit acht bis neun Jahren sitzen die Kinder, die Köpfchen mit künstlichen
Blumen geschmückt, mit dem Schlaf kämpfend in der Oper, die bis Mitte"
nacht dauert. -- "Viele sterben sehr jung, die überlebenden, vorzüglich die
Frauen, führen die Existenz von Glashauspflanzen."

Im Grunde genügten diese Mittheilungen über die socialen Verhältnisse
Mexikos zu einer deutlichen Vorstellung von dem Zustande der politischen
(das Wort "staatlichen" ist bei der vollständigen Abwesenheit des Staatsbe¬
griffes kaum anwendbar). Will man aber ein vollständiges Bild von dem
Chaos gewinnen, welches Kaiser Max bei seiner Landung in Leracruz vor¬
fand, so nehme man die Aufzeichnungen zur Hand, in denen ein scharfsichtiger
und unbefangener Franzose, der Graf Emil K6ratry, seine Erinnerungen an
die mexikanische Expedition, welche das Kaiserthum vorbereiten sollte, nieder¬
gelegt hat. Diesen zuerst in der Rvvuo ach äeux moiräöL veröffentlichten
Aufsätzen ist später ein Bericht desselben Autors über die Lage Mexikos im
Herbst vorigen Jahres gefolgt, welcher die Summe der Erfahrungen und Er¬
folge des östreichischen Unternehmens -- bei aller Anerkennung für den Muth
und die Thatkraft seines Führers -- mit rücksichtloser Klarheit zeigt und die
Erzählungen der Gräfin Kolloniz Zug für Zug ergänzt.

Die Aufgabe, welche der neue Souverän zu erfüllen hatte, war eine
dreifache: Herstellung des inneren und äußeren Friedens und geregelter Be¬
ziehungen zum Auslande -- Bildung einer geschlossenen Partei, mit deren
Hilfe sich ein neues Staatswesen aufführen ließ -- Regelung der tief zerrütteten
wirthschaftlichen und finanziellen Verhältnisse des Landes und seiner Be¬
wohner. Auf allen drei Gebieten hat Maximilian der Erste es an Anstrengun¬
gen nicht fehlen lassen, auf allen ist er geschlagen worden, weil sich nirgend
ein fester Punkt fand, an welchem sich Hebel ansetzen ließen, weil keine Men-
scher, da waren, die Thatkraft, Redlichkeit und gebildete Einsicht zeigten. Die
wiithschaftlichen Zustände waren in einer Verfassung, für welche sich in Europa
(auch die Türkei nicht ausgenommen) absolut kein Analogon findet. Seit fast
einem Vierteljahrhundert waren Straßen, Brücken und Wege sich selbst über¬
lassen geblieben -- alle Versuche zur Wiederherstellung derselben scheiterten
an der Unsicherheit, welche Arbeiter und Ingenieure juaristischen und auf eigene
Hand plündernden und mordenden Banden Preis gab. Im gesammten Kaiser¬
reich gab es nur eine Fabrik, die eine Dampfmaschine besaß und selbst diese
gehörte keinem Eingeborenen, sondern einem Engländer; eine zweite befand sich


gutgeartete Kinder gesehen, aber schon in jungen Jahren fehle eine gewisse
Offenheit, ein wahrhaft kindliches, rückhaltloses Benehmen.

Die Intelligenz, die sehr früh erwacht und bei Kindern von zwei bis drei
Jahren oft schon staunenswerth ist, erreicht schnell eine gewisse Höhe, aber
dann bleibt sie in der Stagnation. <lou2ö ans, ils n'avimeent plus."
Mit acht bis neun Jahren sitzen die Kinder, die Köpfchen mit künstlichen
Blumen geschmückt, mit dem Schlaf kämpfend in der Oper, die bis Mitte»
nacht dauert. — „Viele sterben sehr jung, die überlebenden, vorzüglich die
Frauen, führen die Existenz von Glashauspflanzen."

Im Grunde genügten diese Mittheilungen über die socialen Verhältnisse
Mexikos zu einer deutlichen Vorstellung von dem Zustande der politischen
(das Wort „staatlichen" ist bei der vollständigen Abwesenheit des Staatsbe¬
griffes kaum anwendbar). Will man aber ein vollständiges Bild von dem
Chaos gewinnen, welches Kaiser Max bei seiner Landung in Leracruz vor¬
fand, so nehme man die Aufzeichnungen zur Hand, in denen ein scharfsichtiger
und unbefangener Franzose, der Graf Emil K6ratry, seine Erinnerungen an
die mexikanische Expedition, welche das Kaiserthum vorbereiten sollte, nieder¬
gelegt hat. Diesen zuerst in der Rvvuo ach äeux moiräöL veröffentlichten
Aufsätzen ist später ein Bericht desselben Autors über die Lage Mexikos im
Herbst vorigen Jahres gefolgt, welcher die Summe der Erfahrungen und Er¬
folge des östreichischen Unternehmens — bei aller Anerkennung für den Muth
und die Thatkraft seines Führers — mit rücksichtloser Klarheit zeigt und die
Erzählungen der Gräfin Kolloniz Zug für Zug ergänzt.

Die Aufgabe, welche der neue Souverän zu erfüllen hatte, war eine
dreifache: Herstellung des inneren und äußeren Friedens und geregelter Be¬
ziehungen zum Auslande — Bildung einer geschlossenen Partei, mit deren
Hilfe sich ein neues Staatswesen aufführen ließ — Regelung der tief zerrütteten
wirthschaftlichen und finanziellen Verhältnisse des Landes und seiner Be¬
wohner. Auf allen drei Gebieten hat Maximilian der Erste es an Anstrengun¬
gen nicht fehlen lassen, auf allen ist er geschlagen worden, weil sich nirgend
ein fester Punkt fand, an welchem sich Hebel ansetzen ließen, weil keine Men-
scher, da waren, die Thatkraft, Redlichkeit und gebildete Einsicht zeigten. Die
wiithschaftlichen Zustände waren in einer Verfassung, für welche sich in Europa
(auch die Türkei nicht ausgenommen) absolut kein Analogon findet. Seit fast
einem Vierteljahrhundert waren Straßen, Brücken und Wege sich selbst über¬
lassen geblieben — alle Versuche zur Wiederherstellung derselben scheiterten
an der Unsicherheit, welche Arbeiter und Ingenieure juaristischen und auf eigene
Hand plündernden und mordenden Banden Preis gab. Im gesammten Kaiser¬
reich gab es nur eine Fabrik, die eine Dampfmaschine besaß und selbst diese
gehörte keinem Eingeborenen, sondern einem Engländer; eine zweite befand sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/525>, abgerufen am 22.07.2024.