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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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lithauischen Provinzen auf den Bauernstand zu stützen, der im Königreich zwar
ljechischen Ursprungs, aber zu adelsfeindlich gesinnt war, um national-polnisch
zu sein, in den Ländern nördlich und westlich von Congreßpolen oder lithauisch
oder weißrussisch ist und sich darum allenfalls dem russischen Stamme zuzählen
ließ. Hatte die Regierung sich bereits durch die Aufhebung der russischen Leib¬
eigenschaft als Bauernfreundin bewiesen, so that sie dasselbe in den ehemals
polnischen Ländern in eminenter Weise. Was bis dazu nur in einzelnen demo¬
kratischen Kreisen für ausgemacht gegolten hatte, daß der Schwerpunkt des poli¬
tischen Gewichts in die niederen, am unverfälschtesten national-russisch geblie¬
benen Classen zu verlegen sei, daß die Regierung sich mit diesen gegen die Aristo¬
kratie zu verbünden habe, -- wurde jetzt das Stichwort für alle russischen Po¬
litiker. Von demokratischen Institutionen umgeben, sollte der Thron die Auf¬
gabe haben, Hand in Hand mit dem eigentlichen Volke zu gehen und den aristo-
kratisch-occidentalen Einfluß allenthalben zu vernichten. Der russischen Aristokratie
machte man ihre westeuropäische Bildung und ihre Vorliebe für westeuropäische
Staatseinrichtungen zum Vorwurf, in den westlichen Grenzländern d. h. in
Polen. Lithauen, Finnland und den Ostseeprovinzen waren die aristokratischen
d. h. die gebildeten Gesellschaftsschichten durchweg nicht slawischen Ursprungs,
und die Hindernisse der Assimilation der die niederen Classen bildenden Stämme
(der Lithauer. Weißrussen. Letten. Esthen und Finnen) mit dem russischen Volk
und den nationalrussischen Einrichtungen, unter welchen der altrussische Gemeinde¬
besitz (welcher allen den gleichen Antheil am Grund und Boden zuweist) selbst¬
verständlich die Hauptrolle spielte.

Diese unrussisch-aristokratischen Einflüsse sollten lahm gelegt oder gänz¬
lich vernichtet werden, um Nußland die Durchführung seiner durch das Gesetz
vom 19. Febr. 1861 begonnenen emancipatorischen Aufgabe zu ermög¬
lichen. Aus diese Weise glaubte man ein zugleich streng-nationales und liberal,
demokratisches neues Programm gefunden zu haben, dessen Vertreter zugleich
ihre früheren freiheitlichen Tendenzen treu bleiben und die dem Reichsbestande
wirklich oder angeblich schädlichen Bestrebungen nachsichtslos niedertreten konn¬
ten, ohne ihrem Liberalismus untreu zu werden. -- Ob und in wie weit
die Regierung absichtlich und bewußt dieses Programm zu dem ihrigen ge¬
macht hat, dürste, wenn überhaupt, nur sehr schwer festzustellen sein, um so
schwerer, als der Kreis der maßgebenden russischen Staatsmänner aus sehr ver¬
schiedenen Elementen zusammengesetzt war und gleichzeitig Repräsentanten der
verschiedensten Richtungen zählte. -- die Politik, welche sie in Warschau, Wilna
und Kiew befolgen zu müssen glaubte, konnte aber nicht verfehlen, den Glauben
an die oben angedeutete neue Richtung wenigstens bei denen zu befestigen,
welche derselben selbst zugethan waren. Dazu kam, daß die russiscke Aristo¬
kratie, welche der Vernichtung des Adels und der beinahe schrankenlosen


lithauischen Provinzen auf den Bauernstand zu stützen, der im Königreich zwar
ljechischen Ursprungs, aber zu adelsfeindlich gesinnt war, um national-polnisch
zu sein, in den Ländern nördlich und westlich von Congreßpolen oder lithauisch
oder weißrussisch ist und sich darum allenfalls dem russischen Stamme zuzählen
ließ. Hatte die Regierung sich bereits durch die Aufhebung der russischen Leib¬
eigenschaft als Bauernfreundin bewiesen, so that sie dasselbe in den ehemals
polnischen Ländern in eminenter Weise. Was bis dazu nur in einzelnen demo¬
kratischen Kreisen für ausgemacht gegolten hatte, daß der Schwerpunkt des poli¬
tischen Gewichts in die niederen, am unverfälschtesten national-russisch geblie¬
benen Classen zu verlegen sei, daß die Regierung sich mit diesen gegen die Aristo¬
kratie zu verbünden habe, — wurde jetzt das Stichwort für alle russischen Po¬
litiker. Von demokratischen Institutionen umgeben, sollte der Thron die Auf¬
gabe haben, Hand in Hand mit dem eigentlichen Volke zu gehen und den aristo-
kratisch-occidentalen Einfluß allenthalben zu vernichten. Der russischen Aristokratie
machte man ihre westeuropäische Bildung und ihre Vorliebe für westeuropäische
Staatseinrichtungen zum Vorwurf, in den westlichen Grenzländern d. h. in
Polen. Lithauen, Finnland und den Ostseeprovinzen waren die aristokratischen
d. h. die gebildeten Gesellschaftsschichten durchweg nicht slawischen Ursprungs,
und die Hindernisse der Assimilation der die niederen Classen bildenden Stämme
(der Lithauer. Weißrussen. Letten. Esthen und Finnen) mit dem russischen Volk
und den nationalrussischen Einrichtungen, unter welchen der altrussische Gemeinde¬
besitz (welcher allen den gleichen Antheil am Grund und Boden zuweist) selbst¬
verständlich die Hauptrolle spielte.

Diese unrussisch-aristokratischen Einflüsse sollten lahm gelegt oder gänz¬
lich vernichtet werden, um Nußland die Durchführung seiner durch das Gesetz
vom 19. Febr. 1861 begonnenen emancipatorischen Aufgabe zu ermög¬
lichen. Aus diese Weise glaubte man ein zugleich streng-nationales und liberal,
demokratisches neues Programm gefunden zu haben, dessen Vertreter zugleich
ihre früheren freiheitlichen Tendenzen treu bleiben und die dem Reichsbestande
wirklich oder angeblich schädlichen Bestrebungen nachsichtslos niedertreten konn¬
ten, ohne ihrem Liberalismus untreu zu werden. — Ob und in wie weit
die Regierung absichtlich und bewußt dieses Programm zu dem ihrigen ge¬
macht hat, dürste, wenn überhaupt, nur sehr schwer festzustellen sein, um so
schwerer, als der Kreis der maßgebenden russischen Staatsmänner aus sehr ver¬
schiedenen Elementen zusammengesetzt war und gleichzeitig Repräsentanten der
verschiedensten Richtungen zählte. — die Politik, welche sie in Warschau, Wilna
und Kiew befolgen zu müssen glaubte, konnte aber nicht verfehlen, den Glauben
an die oben angedeutete neue Richtung wenigstens bei denen zu befestigen,
welche derselben selbst zugethan waren. Dazu kam, daß die russiscke Aristo¬
kratie, welche der Vernichtung des Adels und der beinahe schrankenlosen


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[0478] lithauischen Provinzen auf den Bauernstand zu stützen, der im Königreich zwar ljechischen Ursprungs, aber zu adelsfeindlich gesinnt war, um national-polnisch zu sein, in den Ländern nördlich und westlich von Congreßpolen oder lithauisch oder weißrussisch ist und sich darum allenfalls dem russischen Stamme zuzählen ließ. Hatte die Regierung sich bereits durch die Aufhebung der russischen Leib¬ eigenschaft als Bauernfreundin bewiesen, so that sie dasselbe in den ehemals polnischen Ländern in eminenter Weise. Was bis dazu nur in einzelnen demo¬ kratischen Kreisen für ausgemacht gegolten hatte, daß der Schwerpunkt des poli¬ tischen Gewichts in die niederen, am unverfälschtesten national-russisch geblie¬ benen Classen zu verlegen sei, daß die Regierung sich mit diesen gegen die Aristo¬ kratie zu verbünden habe, — wurde jetzt das Stichwort für alle russischen Po¬ litiker. Von demokratischen Institutionen umgeben, sollte der Thron die Auf¬ gabe haben, Hand in Hand mit dem eigentlichen Volke zu gehen und den aristo- kratisch-occidentalen Einfluß allenthalben zu vernichten. Der russischen Aristokratie machte man ihre westeuropäische Bildung und ihre Vorliebe für westeuropäische Staatseinrichtungen zum Vorwurf, in den westlichen Grenzländern d. h. in Polen. Lithauen, Finnland und den Ostseeprovinzen waren die aristokratischen d. h. die gebildeten Gesellschaftsschichten durchweg nicht slawischen Ursprungs, und die Hindernisse der Assimilation der die niederen Classen bildenden Stämme (der Lithauer. Weißrussen. Letten. Esthen und Finnen) mit dem russischen Volk und den nationalrussischen Einrichtungen, unter welchen der altrussische Gemeinde¬ besitz (welcher allen den gleichen Antheil am Grund und Boden zuweist) selbst¬ verständlich die Hauptrolle spielte. Diese unrussisch-aristokratischen Einflüsse sollten lahm gelegt oder gänz¬ lich vernichtet werden, um Nußland die Durchführung seiner durch das Gesetz vom 19. Febr. 1861 begonnenen emancipatorischen Aufgabe zu ermög¬ lichen. Aus diese Weise glaubte man ein zugleich streng-nationales und liberal, demokratisches neues Programm gefunden zu haben, dessen Vertreter zugleich ihre früheren freiheitlichen Tendenzen treu bleiben und die dem Reichsbestande wirklich oder angeblich schädlichen Bestrebungen nachsichtslos niedertreten konn¬ ten, ohne ihrem Liberalismus untreu zu werden. — Ob und in wie weit die Regierung absichtlich und bewußt dieses Programm zu dem ihrigen ge¬ macht hat, dürste, wenn überhaupt, nur sehr schwer festzustellen sein, um so schwerer, als der Kreis der maßgebenden russischen Staatsmänner aus sehr ver¬ schiedenen Elementen zusammengesetzt war und gleichzeitig Repräsentanten der verschiedensten Richtungen zählte. — die Politik, welche sie in Warschau, Wilna und Kiew befolgen zu müssen glaubte, konnte aber nicht verfehlen, den Glauben an die oben angedeutete neue Richtung wenigstens bei denen zu befestigen, welche derselben selbst zugethan waren. Dazu kam, daß die russiscke Aristo¬ kratie, welche der Vernichtung des Adels und der beinahe schrankenlosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/478>, abgerufen am 22.07.2024.