Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Slawophilen Moskaus war die Eroberung der Freiheit identisch mit der Wieder-
Herstellung des altrussischen Lebens der vorpetrinischen Periode, den Liberalen
Petersburgs mit Ertheilung einer Konstitution nach belgischen Muster, den
Finnländern mit Wiedcreinberusung ihrer seit einem halben Jahrhundert quies-
cirten Landstände, den Deutschen der Ostsecprov inzen mit Wiederherstellung der
Glaubensfreiheit und Stärkung ihrer durch büreaukratische Eingriffe verkürzten
Autonomie. -- die Polen endlich verstanden unter Reform im liberalen Sinne
nichts mehr und nichts weniger, als Vereinigung der lithauischen, der wciß-
und kleinrussischen Provinzen mit dem Königreich Polen und Erneuerung der
1831 aufgehobenen Constitution. Am ernsthaftesten meinte es mit seinen Wünschen
für Theilnahme des Volks an der Negierung vielleicht der russische Adel, der
eine Erweiterung seiner politischen Rechte als Kompensation für die Opfer verlangte,
welche er der Freiheit des Bauernstandes bringen mühte. -- Neben und über
allen diesen verschiedenen Geistern trieb der Dämon des herzcnschen Socialismus
sein Spiel, bald mit den Slawophilen und ihrer Vorliebe für den Gemeinde¬
besitz kokettirend, bald mit den Freigeistern Petersburgs für Moleschott und Vogt
Propaganda machend, von allen Parteien wegen des scharfen Tons seiner "Glocke"
gefürchtet, von dem großen Haufen der Tages- und Gelcgenheitspolitiker wegen
des Radikalismus seiner Anschauungen und der Kühnheit seiner Sprache an¬
gebetet.

Diese erste, naive Periode des russischen Regierungs- und Volksliberalismus
hat ein neuerer russischer Schriftsteller ziemlich treffend die englische genannt,
weil sie die Freiheit in der Geltendmachung und Bethätigung historisch gewor¬
dener Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse sah, dem Staat die Aufgabe zuwies,
die natürliche Entwickelung des Einzelnen zu ihrem Rechte kommen zu lassen
und in das Ganze einzufügen. Bereits durch die Se. Petersburger Maifeuers-
brünste von 1862 um ihre Unschuld gebracht, erreichte sie in den Monaten,
welche der polnischen Erhebung (Januar 1863) folgten, ihr Ende. Da das
Programm der sinnlosen Polnisch-demokratischen Partei, welche die Seele dieses
unseligen Aufstandes war. sofort die Wiederherstellung der Grenzen von 1772
und damit die Zerstückelung der westlichen Hälfte der russischen Monarchie for¬
derte, verletzte sie das russische Nationalbewußtsein aufs empfindlichste. Mit
dem bisher geübten Liberalismus war es zu Ende -- einmal in die Noth¬
wendigkeit versetzt, gegen die Polen "illiberal" zu sein, nahm die Bewegung
der Geister alsbald eine gänzlich veränderte Richtung: das Streben nach Frei-
heit sollte an der Einheit der Nationalität und an der Treue gegen die unver-
fälschte Reinheit dieser eine feste, unverrückbare Schranke haben. Trotz ihrer
demokratischen Bestandtheile war die polnische Revolution wesentlich aristo-
kratischer Natur, d. h. sie ging von den gebildeten Classen, vom Adel aus. die
Regierung war darum in die Nothwendigkeit versetzt, sich in den polnischen und


Slawophilen Moskaus war die Eroberung der Freiheit identisch mit der Wieder-
Herstellung des altrussischen Lebens der vorpetrinischen Periode, den Liberalen
Petersburgs mit Ertheilung einer Konstitution nach belgischen Muster, den
Finnländern mit Wiedcreinberusung ihrer seit einem halben Jahrhundert quies-
cirten Landstände, den Deutschen der Ostsecprov inzen mit Wiederherstellung der
Glaubensfreiheit und Stärkung ihrer durch büreaukratische Eingriffe verkürzten
Autonomie. — die Polen endlich verstanden unter Reform im liberalen Sinne
nichts mehr und nichts weniger, als Vereinigung der lithauischen, der wciß-
und kleinrussischen Provinzen mit dem Königreich Polen und Erneuerung der
1831 aufgehobenen Constitution. Am ernsthaftesten meinte es mit seinen Wünschen
für Theilnahme des Volks an der Negierung vielleicht der russische Adel, der
eine Erweiterung seiner politischen Rechte als Kompensation für die Opfer verlangte,
welche er der Freiheit des Bauernstandes bringen mühte. — Neben und über
allen diesen verschiedenen Geistern trieb der Dämon des herzcnschen Socialismus
sein Spiel, bald mit den Slawophilen und ihrer Vorliebe für den Gemeinde¬
besitz kokettirend, bald mit den Freigeistern Petersburgs für Moleschott und Vogt
Propaganda machend, von allen Parteien wegen des scharfen Tons seiner „Glocke"
gefürchtet, von dem großen Haufen der Tages- und Gelcgenheitspolitiker wegen
des Radikalismus seiner Anschauungen und der Kühnheit seiner Sprache an¬
gebetet.

Diese erste, naive Periode des russischen Regierungs- und Volksliberalismus
hat ein neuerer russischer Schriftsteller ziemlich treffend die englische genannt,
weil sie die Freiheit in der Geltendmachung und Bethätigung historisch gewor¬
dener Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse sah, dem Staat die Aufgabe zuwies,
die natürliche Entwickelung des Einzelnen zu ihrem Rechte kommen zu lassen
und in das Ganze einzufügen. Bereits durch die Se. Petersburger Maifeuers-
brünste von 1862 um ihre Unschuld gebracht, erreichte sie in den Monaten,
welche der polnischen Erhebung (Januar 1863) folgten, ihr Ende. Da das
Programm der sinnlosen Polnisch-demokratischen Partei, welche die Seele dieses
unseligen Aufstandes war. sofort die Wiederherstellung der Grenzen von 1772
und damit die Zerstückelung der westlichen Hälfte der russischen Monarchie for¬
derte, verletzte sie das russische Nationalbewußtsein aufs empfindlichste. Mit
dem bisher geübten Liberalismus war es zu Ende — einmal in die Noth¬
wendigkeit versetzt, gegen die Polen „illiberal" zu sein, nahm die Bewegung
der Geister alsbald eine gänzlich veränderte Richtung: das Streben nach Frei-
heit sollte an der Einheit der Nationalität und an der Treue gegen die unver-
fälschte Reinheit dieser eine feste, unverrückbare Schranke haben. Trotz ihrer
demokratischen Bestandtheile war die polnische Revolution wesentlich aristo-
kratischer Natur, d. h. sie ging von den gebildeten Classen, vom Adel aus. die
Regierung war darum in die Nothwendigkeit versetzt, sich in den polnischen und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191171"/>
          <p xml:id="ID_1550" prev="#ID_1549"> Slawophilen Moskaus war die Eroberung der Freiheit identisch mit der Wieder-<lb/>
Herstellung des altrussischen Lebens der vorpetrinischen Periode, den Liberalen<lb/>
Petersburgs mit Ertheilung einer Konstitution nach belgischen Muster, den<lb/>
Finnländern mit Wiedcreinberusung ihrer seit einem halben Jahrhundert quies-<lb/>
cirten Landstände, den Deutschen der Ostsecprov inzen mit Wiederherstellung der<lb/>
Glaubensfreiheit und Stärkung ihrer durch büreaukratische Eingriffe verkürzten<lb/>
Autonomie. &#x2014; die Polen endlich verstanden unter Reform im liberalen Sinne<lb/>
nichts mehr und nichts weniger, als Vereinigung der lithauischen, der wciß-<lb/>
und kleinrussischen Provinzen mit dem Königreich Polen und Erneuerung der<lb/>
1831 aufgehobenen Constitution. Am ernsthaftesten meinte es mit seinen Wünschen<lb/>
für Theilnahme des Volks an der Negierung vielleicht der russische Adel, der<lb/>
eine Erweiterung seiner politischen Rechte als Kompensation für die Opfer verlangte,<lb/>
welche er der Freiheit des Bauernstandes bringen mühte. &#x2014; Neben und über<lb/>
allen diesen verschiedenen Geistern trieb der Dämon des herzcnschen Socialismus<lb/>
sein Spiel, bald mit den Slawophilen und ihrer Vorliebe für den Gemeinde¬<lb/>
besitz kokettirend, bald mit den Freigeistern Petersburgs für Moleschott und Vogt<lb/>
Propaganda machend, von allen Parteien wegen des scharfen Tons seiner &#x201E;Glocke"<lb/>
gefürchtet, von dem großen Haufen der Tages- und Gelcgenheitspolitiker wegen<lb/>
des Radikalismus seiner Anschauungen und der Kühnheit seiner Sprache an¬<lb/>
gebetet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1551" next="#ID_1552"> Diese erste, naive Periode des russischen Regierungs- und Volksliberalismus<lb/>
hat ein neuerer russischer Schriftsteller ziemlich treffend die englische genannt,<lb/>
weil sie die Freiheit in der Geltendmachung und Bethätigung historisch gewor¬<lb/>
dener Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse sah, dem Staat die Aufgabe zuwies,<lb/>
die natürliche Entwickelung des Einzelnen zu ihrem Rechte kommen zu lassen<lb/>
und in das Ganze einzufügen. Bereits durch die Se. Petersburger Maifeuers-<lb/>
brünste von 1862 um ihre Unschuld gebracht, erreichte sie in den Monaten,<lb/>
welche der polnischen Erhebung (Januar 1863) folgten, ihr Ende. Da das<lb/>
Programm der sinnlosen Polnisch-demokratischen Partei, welche die Seele dieses<lb/>
unseligen Aufstandes war. sofort die Wiederherstellung der Grenzen von 1772<lb/>
und damit die Zerstückelung der westlichen Hälfte der russischen Monarchie for¬<lb/>
derte, verletzte sie das russische Nationalbewußtsein aufs empfindlichste. Mit<lb/>
dem bisher geübten Liberalismus war es zu Ende &#x2014; einmal in die Noth¬<lb/>
wendigkeit versetzt, gegen die Polen &#x201E;illiberal" zu sein, nahm die Bewegung<lb/>
der Geister alsbald eine gänzlich veränderte Richtung: das Streben nach Frei-<lb/>
heit sollte an der Einheit der Nationalität und an der Treue gegen die unver-<lb/>
fälschte Reinheit dieser eine feste, unverrückbare Schranke haben. Trotz ihrer<lb/>
demokratischen Bestandtheile war die polnische Revolution wesentlich aristo-<lb/>
kratischer Natur, d. h. sie ging von den gebildeten Classen, vom Adel aus. die<lb/>
Regierung war darum in die Nothwendigkeit versetzt, sich in den polnischen und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] Slawophilen Moskaus war die Eroberung der Freiheit identisch mit der Wieder- Herstellung des altrussischen Lebens der vorpetrinischen Periode, den Liberalen Petersburgs mit Ertheilung einer Konstitution nach belgischen Muster, den Finnländern mit Wiedcreinberusung ihrer seit einem halben Jahrhundert quies- cirten Landstände, den Deutschen der Ostsecprov inzen mit Wiederherstellung der Glaubensfreiheit und Stärkung ihrer durch büreaukratische Eingriffe verkürzten Autonomie. — die Polen endlich verstanden unter Reform im liberalen Sinne nichts mehr und nichts weniger, als Vereinigung der lithauischen, der wciß- und kleinrussischen Provinzen mit dem Königreich Polen und Erneuerung der 1831 aufgehobenen Constitution. Am ernsthaftesten meinte es mit seinen Wünschen für Theilnahme des Volks an der Negierung vielleicht der russische Adel, der eine Erweiterung seiner politischen Rechte als Kompensation für die Opfer verlangte, welche er der Freiheit des Bauernstandes bringen mühte. — Neben und über allen diesen verschiedenen Geistern trieb der Dämon des herzcnschen Socialismus sein Spiel, bald mit den Slawophilen und ihrer Vorliebe für den Gemeinde¬ besitz kokettirend, bald mit den Freigeistern Petersburgs für Moleschott und Vogt Propaganda machend, von allen Parteien wegen des scharfen Tons seiner „Glocke" gefürchtet, von dem großen Haufen der Tages- und Gelcgenheitspolitiker wegen des Radikalismus seiner Anschauungen und der Kühnheit seiner Sprache an¬ gebetet. Diese erste, naive Periode des russischen Regierungs- und Volksliberalismus hat ein neuerer russischer Schriftsteller ziemlich treffend die englische genannt, weil sie die Freiheit in der Geltendmachung und Bethätigung historisch gewor¬ dener Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse sah, dem Staat die Aufgabe zuwies, die natürliche Entwickelung des Einzelnen zu ihrem Rechte kommen zu lassen und in das Ganze einzufügen. Bereits durch die Se. Petersburger Maifeuers- brünste von 1862 um ihre Unschuld gebracht, erreichte sie in den Monaten, welche der polnischen Erhebung (Januar 1863) folgten, ihr Ende. Da das Programm der sinnlosen Polnisch-demokratischen Partei, welche die Seele dieses unseligen Aufstandes war. sofort die Wiederherstellung der Grenzen von 1772 und damit die Zerstückelung der westlichen Hälfte der russischen Monarchie for¬ derte, verletzte sie das russische Nationalbewußtsein aufs empfindlichste. Mit dem bisher geübten Liberalismus war es zu Ende — einmal in die Noth¬ wendigkeit versetzt, gegen die Polen „illiberal" zu sein, nahm die Bewegung der Geister alsbald eine gänzlich veränderte Richtung: das Streben nach Frei- heit sollte an der Einheit der Nationalität und an der Treue gegen die unver- fälschte Reinheit dieser eine feste, unverrückbare Schranke haben. Trotz ihrer demokratischen Bestandtheile war die polnische Revolution wesentlich aristo- kratischer Natur, d. h. sie ging von den gebildeten Classen, vom Adel aus. die Regierung war darum in die Nothwendigkeit versetzt, sich in den polnischen und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/477>, abgerufen am 22.07.2024.