Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

im Temple aus der Seele des kaiserlichen Gastes zu verwischen, drängj sich dem
ferner stehenden Beobachter unwillkürlich die Frage nach den Folgen dieser That
und nach ihrem Verhältniß zum Attentat vom 16. April v. I. auf. Wird die
gemeinsam ausgestandene Gefahr die Herzen der Beherrscher von Rußland und
Frankreich enger verbinden oder wird der erste peinliche Eindruck der maßgebende
sein? Sind die polnischen Sympathien der Franzosen auf einige Zeit erstickt
worden oder muß die meuchlerische Kugel Bereczowskis für einen neuen Beweis
der Unsühnbarkeit des Unrechts von 1793 gelten? Was werden die zu Peters¬
burg und Moskau versammelten Slawenführer zu dem Mordanfall aus den
Lenker der slawischen Geschicke sagen? Wird sich bei ihnen das Gefühl der
gemeinsamen Abneigung gegen den Westen verschärfen, für dessen östlichen Re¬
präsentanten sie das Polenthum ansehen, oder wird die eben zum Schweigen
gebrachte Meinungsverschiedenheit in der polnischen Frage aufs neue ihr Recht
verlangen und den kaum geschlossenen, noch nicht besiegelten Bund wieder in seine
Bestandtheile auflösen?

Setzen wir die Beantwortung dieser Fragen zuvörderst aus, um uns über die
leitenden Gedanken der inneren russischen Politik der letzten Jahre und über ti<
Bedeutung zu orientiren, welche das erste auf das Leben Alexanders des
Zweiten unternommene Attentat für dieselbe gehabt hat.

Für das wichtigste russische Ereigniß der Gegenwart gilt noch zur Stunde
die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche der Kaiser am 21. Febr. 1861 decre-
tirte und durch welche er in der That eine neue Epoche der russischen Staats¬
und Volksgeschichte begründete. Ein richtiges Verständniß dieser befreienden
That läßt sich nur gewinnen, wenn man dieselbe mit der Niederschlagung
des polnischen Aufstandes von 1863 Zusammenhalt und in die gehörige Be¬
ziehung setzt.

Vom letzten pariser Frieden bis zum Januar 1863 hatte das russische
Staats- und Volksleben den Charakter eines so zu sagen naiven Liberalis¬
mus getragen. Seit der Kaiser das Zauberwort "Reform" ausgesprochen
regte sich alles, was Leben und Lebensfähigkeit in sich fühlte, um Theil zu
haben an der Sonne der jungen Freiheit. Fast gleichzeitig manifestirten sich
Bestrebungen und Richtungen der verschiedensten Art. die, weil quf ihnen allen
der Bann und Druck eines ehernen Jochs gelegen, eigentlich alle für relativ,
berechtigt galten. Das russische Volk, das den Arbeiten zur Umgestaltung der
bäuerlichen Verhältnisse mit begeisterter Theilnahme zusah, erging sich in Wün¬
schen sür freie Presse, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens,
Beschränkung militärischer und büreaukratischer Willkür, vorgeschrittene Geister
träumten sogar von einer Einschränkung der monarchischen Gewalt, jede Partei,
jede Gruppe suchte die Freiheit in ihrer Weise und wie sie es verstand und
alle erfreuten sich der gleichen, wenn auch nicht bedingungslosen Duldung. DM


im Temple aus der Seele des kaiserlichen Gastes zu verwischen, drängj sich dem
ferner stehenden Beobachter unwillkürlich die Frage nach den Folgen dieser That
und nach ihrem Verhältniß zum Attentat vom 16. April v. I. auf. Wird die
gemeinsam ausgestandene Gefahr die Herzen der Beherrscher von Rußland und
Frankreich enger verbinden oder wird der erste peinliche Eindruck der maßgebende
sein? Sind die polnischen Sympathien der Franzosen auf einige Zeit erstickt
worden oder muß die meuchlerische Kugel Bereczowskis für einen neuen Beweis
der Unsühnbarkeit des Unrechts von 1793 gelten? Was werden die zu Peters¬
burg und Moskau versammelten Slawenführer zu dem Mordanfall aus den
Lenker der slawischen Geschicke sagen? Wird sich bei ihnen das Gefühl der
gemeinsamen Abneigung gegen den Westen verschärfen, für dessen östlichen Re¬
präsentanten sie das Polenthum ansehen, oder wird die eben zum Schweigen
gebrachte Meinungsverschiedenheit in der polnischen Frage aufs neue ihr Recht
verlangen und den kaum geschlossenen, noch nicht besiegelten Bund wieder in seine
Bestandtheile auflösen?

Setzen wir die Beantwortung dieser Fragen zuvörderst aus, um uns über die
leitenden Gedanken der inneren russischen Politik der letzten Jahre und über ti<
Bedeutung zu orientiren, welche das erste auf das Leben Alexanders des
Zweiten unternommene Attentat für dieselbe gehabt hat.

Für das wichtigste russische Ereigniß der Gegenwart gilt noch zur Stunde
die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche der Kaiser am 21. Febr. 1861 decre-
tirte und durch welche er in der That eine neue Epoche der russischen Staats¬
und Volksgeschichte begründete. Ein richtiges Verständniß dieser befreienden
That läßt sich nur gewinnen, wenn man dieselbe mit der Niederschlagung
des polnischen Aufstandes von 1863 Zusammenhalt und in die gehörige Be¬
ziehung setzt.

Vom letzten pariser Frieden bis zum Januar 1863 hatte das russische
Staats- und Volksleben den Charakter eines so zu sagen naiven Liberalis¬
mus getragen. Seit der Kaiser das Zauberwort „Reform" ausgesprochen
regte sich alles, was Leben und Lebensfähigkeit in sich fühlte, um Theil zu
haben an der Sonne der jungen Freiheit. Fast gleichzeitig manifestirten sich
Bestrebungen und Richtungen der verschiedensten Art. die, weil quf ihnen allen
der Bann und Druck eines ehernen Jochs gelegen, eigentlich alle für relativ,
berechtigt galten. Das russische Volk, das den Arbeiten zur Umgestaltung der
bäuerlichen Verhältnisse mit begeisterter Theilnahme zusah, erging sich in Wün¬
schen sür freie Presse, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens,
Beschränkung militärischer und büreaukratischer Willkür, vorgeschrittene Geister
träumten sogar von einer Einschränkung der monarchischen Gewalt, jede Partei,
jede Gruppe suchte die Freiheit in ihrer Weise und wie sie es verstand und
alle erfreuten sich der gleichen, wenn auch nicht bedingungslosen Duldung. DM


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191170"/>
          <p xml:id="ID_1546" prev="#ID_1545"> im Temple aus der Seele des kaiserlichen Gastes zu verwischen, drängj sich dem<lb/>
ferner stehenden Beobachter unwillkürlich die Frage nach den Folgen dieser That<lb/>
und nach ihrem Verhältniß zum Attentat vom 16. April v. I. auf. Wird die<lb/>
gemeinsam ausgestandene Gefahr die Herzen der Beherrscher von Rußland und<lb/>
Frankreich enger verbinden oder wird der erste peinliche Eindruck der maßgebende<lb/>
sein? Sind die polnischen Sympathien der Franzosen auf einige Zeit erstickt<lb/>
worden oder muß die meuchlerische Kugel Bereczowskis für einen neuen Beweis<lb/>
der Unsühnbarkeit des Unrechts von 1793 gelten? Was werden die zu Peters¬<lb/>
burg und Moskau versammelten Slawenführer zu dem Mordanfall aus den<lb/>
Lenker der slawischen Geschicke sagen? Wird sich bei ihnen das Gefühl der<lb/>
gemeinsamen Abneigung gegen den Westen verschärfen, für dessen östlichen Re¬<lb/>
präsentanten sie das Polenthum ansehen, oder wird die eben zum Schweigen<lb/>
gebrachte Meinungsverschiedenheit in der polnischen Frage aufs neue ihr Recht<lb/>
verlangen und den kaum geschlossenen, noch nicht besiegelten Bund wieder in seine<lb/>
Bestandtheile auflösen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1547"> Setzen wir die Beantwortung dieser Fragen zuvörderst aus, um uns über die<lb/>
leitenden Gedanken der inneren russischen Politik der letzten Jahre und über ti&lt;<lb/>
Bedeutung zu orientiren, welche das erste auf das Leben Alexanders des<lb/>
Zweiten unternommene Attentat für dieselbe gehabt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1548"> Für das wichtigste russische Ereigniß der Gegenwart gilt noch zur Stunde<lb/>
die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche der Kaiser am 21. Febr. 1861 decre-<lb/>
tirte und durch welche er in der That eine neue Epoche der russischen Staats¬<lb/>
und Volksgeschichte begründete. Ein richtiges Verständniß dieser befreienden<lb/>
That läßt sich nur gewinnen, wenn man dieselbe mit der Niederschlagung<lb/>
des polnischen Aufstandes von 1863 Zusammenhalt und in die gehörige Be¬<lb/>
ziehung setzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1549" next="#ID_1550"> Vom letzten pariser Frieden bis zum Januar 1863 hatte das russische<lb/>
Staats- und Volksleben den Charakter eines so zu sagen naiven Liberalis¬<lb/>
mus getragen. Seit der Kaiser das Zauberwort &#x201E;Reform" ausgesprochen<lb/>
regte sich alles, was Leben und Lebensfähigkeit in sich fühlte, um Theil zu<lb/>
haben an der Sonne der jungen Freiheit. Fast gleichzeitig manifestirten sich<lb/>
Bestrebungen und Richtungen der verschiedensten Art. die, weil quf ihnen allen<lb/>
der Bann und Druck eines ehernen Jochs gelegen, eigentlich alle für relativ,<lb/>
berechtigt galten. Das russische Volk, das den Arbeiten zur Umgestaltung der<lb/>
bäuerlichen Verhältnisse mit begeisterter Theilnahme zusah, erging sich in Wün¬<lb/>
schen sür freie Presse, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens,<lb/>
Beschränkung militärischer und büreaukratischer Willkür, vorgeschrittene Geister<lb/>
träumten sogar von einer Einschränkung der monarchischen Gewalt, jede Partei,<lb/>
jede Gruppe suchte die Freiheit in ihrer Weise und wie sie es verstand und<lb/>
alle erfreuten sich der gleichen, wenn auch nicht bedingungslosen Duldung. DM</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0476] im Temple aus der Seele des kaiserlichen Gastes zu verwischen, drängj sich dem ferner stehenden Beobachter unwillkürlich die Frage nach den Folgen dieser That und nach ihrem Verhältniß zum Attentat vom 16. April v. I. auf. Wird die gemeinsam ausgestandene Gefahr die Herzen der Beherrscher von Rußland und Frankreich enger verbinden oder wird der erste peinliche Eindruck der maßgebende sein? Sind die polnischen Sympathien der Franzosen auf einige Zeit erstickt worden oder muß die meuchlerische Kugel Bereczowskis für einen neuen Beweis der Unsühnbarkeit des Unrechts von 1793 gelten? Was werden die zu Peters¬ burg und Moskau versammelten Slawenführer zu dem Mordanfall aus den Lenker der slawischen Geschicke sagen? Wird sich bei ihnen das Gefühl der gemeinsamen Abneigung gegen den Westen verschärfen, für dessen östlichen Re¬ präsentanten sie das Polenthum ansehen, oder wird die eben zum Schweigen gebrachte Meinungsverschiedenheit in der polnischen Frage aufs neue ihr Recht verlangen und den kaum geschlossenen, noch nicht besiegelten Bund wieder in seine Bestandtheile auflösen? Setzen wir die Beantwortung dieser Fragen zuvörderst aus, um uns über die leitenden Gedanken der inneren russischen Politik der letzten Jahre und über ti< Bedeutung zu orientiren, welche das erste auf das Leben Alexanders des Zweiten unternommene Attentat für dieselbe gehabt hat. Für das wichtigste russische Ereigniß der Gegenwart gilt noch zur Stunde die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche der Kaiser am 21. Febr. 1861 decre- tirte und durch welche er in der That eine neue Epoche der russischen Staats¬ und Volksgeschichte begründete. Ein richtiges Verständniß dieser befreienden That läßt sich nur gewinnen, wenn man dieselbe mit der Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1863 Zusammenhalt und in die gehörige Be¬ ziehung setzt. Vom letzten pariser Frieden bis zum Januar 1863 hatte das russische Staats- und Volksleben den Charakter eines so zu sagen naiven Liberalis¬ mus getragen. Seit der Kaiser das Zauberwort „Reform" ausgesprochen regte sich alles, was Leben und Lebensfähigkeit in sich fühlte, um Theil zu haben an der Sonne der jungen Freiheit. Fast gleichzeitig manifestirten sich Bestrebungen und Richtungen der verschiedensten Art. die, weil quf ihnen allen der Bann und Druck eines ehernen Jochs gelegen, eigentlich alle für relativ, berechtigt galten. Das russische Volk, das den Arbeiten zur Umgestaltung der bäuerlichen Verhältnisse mit begeisterter Theilnahme zusah, erging sich in Wün¬ schen sür freie Presse, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens, Beschränkung militärischer und büreaukratischer Willkür, vorgeschrittene Geister träumten sogar von einer Einschränkung der monarchischen Gewalt, jede Partei, jede Gruppe suchte die Freiheit in ihrer Weise und wie sie es verstand und alle erfreuten sich der gleichen, wenn auch nicht bedingungslosen Duldung. DM

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/476
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/476>, abgerufen am 05.02.2025.