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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Handlung über das lettische Volkslied setzt ein keltischer Parteiführer. Herr
Beesbardis. den'Lesern auseinander, daß die wahrhaft poetischen Weisen seines
Völkchens keltisch-nationalen, mithin slawischen Ursprungs seien, die meist "zo¬
tigen" SaUf- und Gelaglieder desselben sich aber auf deutsche Originale zurück-
führen ließen, und "keinen geringen" Beitrag zur Charakteristik der livländischen
Gesellschaft des Neformationszeitalters lieferten. Ein anderer Patriot bespricht
.,Zustünde und Eigenthümlichkeiten der baltischen Provinzen Rußlands", um
dieselben schließlich als "schauerliche Beweise menschlicher Thorheit" vor aller Welt
zu brandmarken, ein dritter handelt über mercantile und gewerbliche Zustände
derselben Provinzen und empfiehlt den Bewohnern derselben behufs Verbesse,
ring ihrer Handelsbilance "Bekehrung" zu aufrichtiger Eintracht mit Rußland
und "rückhaltslose Hingebung an das gemeinsame Regentenhaus" und um den
Standpunkt der Redaction möglichst scharf zu bezeichnen, wird schließlich mit
Genugthuung' von einem in der deutschen Presse meist vielbesprochenen Ukas
Act genommen, durch welchen den baltischen Journalen int Interesse der Auf¬
rechterhaltung des Friedens verboten worden war. auf die Anklagen und Pro-
^ocaiiontn der Zeitblätter Moskaus und Petersburgs zu antworten!

Von dem verstorbenen Kaiser Nikolaus von Nußland wird erzählt, er habe,
als ihni' berichtet worden, der Russe Bakunin sei einer der Führer des dresdener
Maiaufstandes gewesen, ausgerufen: "Nun ich freue mich, daß man in Deutsch,
land nicht einmal Revolution machen kann, ohne daß ein Russe den Führer
abgiebt!" Wir haben nicht weiter zu 'untersuchen, in wieweit dieser Satz be-
gründet war -- näher liegt es, denselben mit einer kleinen Modification auf
den vorliegenden Fall anzuwenden und zu behaupten, die slawischen, wie manche
anders Völker unseres Welttheils vermöchten nicht einmal eine nationale Mode¬
thorheit in Scene zu setzen, ohne daß ein Deutscher den Chorführer des Reigens
abgiebt. Unter einen andern als den Gesichtspunkt der Modethorheit wissen
wir die baunener Caricatur des Nationalitätsprincips und der pänslawisiischen
Welthtrrschaftsgelüfle aber kaum zu bringen. Seit J 'hrhunderten von deutschen
Stämmen umgeben und in ein deutsches Staatensystem eingefügt, von deutscher
Cultur und Bildung genährt, und ausschließlich durch den Einfluß dieser der
Wohlthaten der Civilisation theilhaft gemacht, haben die lausitzer Wenden
irr Wahrheit längst aufgehört, an der Entwickelung des slawischen Völkerlebens
theilzunehmen, sind sie trotz der Ueberreste ihrer Volkssprache längst zu Deut-
schen geworden. Daß die Eigenthümlichkeit eines Volks nicht sowohl durch die
Race. als durch den Charakter seiner Cultur bestimmt wird, daß nicht der Stamm¬
baum, sondern die Bildungsgeschichte dafür maßgebend ist. ob es der einen oder
der anderen Völkerfamilie zuzuzählen ist, das kann heutzutage für ausgemacht
anWehen werden', und nur der Ueberspanntheit des zum Schwindel gewordene"
NativnMtätSprincips ist- es zuzuschreiben, wenn Versprengte Völkersplitter, die


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Handlung über das lettische Volkslied setzt ein keltischer Parteiführer. Herr
Beesbardis. den'Lesern auseinander, daß die wahrhaft poetischen Weisen seines
Völkchens keltisch-nationalen, mithin slawischen Ursprungs seien, die meist „zo¬
tigen" SaUf- und Gelaglieder desselben sich aber auf deutsche Originale zurück-
führen ließen, und „keinen geringen" Beitrag zur Charakteristik der livländischen
Gesellschaft des Neformationszeitalters lieferten. Ein anderer Patriot bespricht
.,Zustünde und Eigenthümlichkeiten der baltischen Provinzen Rußlands", um
dieselben schließlich als „schauerliche Beweise menschlicher Thorheit" vor aller Welt
zu brandmarken, ein dritter handelt über mercantile und gewerbliche Zustände
derselben Provinzen und empfiehlt den Bewohnern derselben behufs Verbesse,
ring ihrer Handelsbilance „Bekehrung" zu aufrichtiger Eintracht mit Rußland
und „rückhaltslose Hingebung an das gemeinsame Regentenhaus" und um den
Standpunkt der Redaction möglichst scharf zu bezeichnen, wird schließlich mit
Genugthuung' von einem in der deutschen Presse meist vielbesprochenen Ukas
Act genommen, durch welchen den baltischen Journalen int Interesse der Auf¬
rechterhaltung des Friedens verboten worden war. auf die Anklagen und Pro-
^ocaiiontn der Zeitblätter Moskaus und Petersburgs zu antworten!

Von dem verstorbenen Kaiser Nikolaus von Nußland wird erzählt, er habe,
als ihni' berichtet worden, der Russe Bakunin sei einer der Führer des dresdener
Maiaufstandes gewesen, ausgerufen: „Nun ich freue mich, daß man in Deutsch,
land nicht einmal Revolution machen kann, ohne daß ein Russe den Führer
abgiebt!" Wir haben nicht weiter zu 'untersuchen, in wieweit dieser Satz be-
gründet war — näher liegt es, denselben mit einer kleinen Modification auf
den vorliegenden Fall anzuwenden und zu behaupten, die slawischen, wie manche
anders Völker unseres Welttheils vermöchten nicht einmal eine nationale Mode¬
thorheit in Scene zu setzen, ohne daß ein Deutscher den Chorführer des Reigens
abgiebt. Unter einen andern als den Gesichtspunkt der Modethorheit wissen
wir die baunener Caricatur des Nationalitätsprincips und der pänslawisiischen
Welthtrrschaftsgelüfle aber kaum zu bringen. Seit J 'hrhunderten von deutschen
Stämmen umgeben und in ein deutsches Staatensystem eingefügt, von deutscher
Cultur und Bildung genährt, und ausschließlich durch den Einfluß dieser der
Wohlthaten der Civilisation theilhaft gemacht, haben die lausitzer Wenden
irr Wahrheit längst aufgehört, an der Entwickelung des slawischen Völkerlebens
theilzunehmen, sind sie trotz der Ueberreste ihrer Volkssprache längst zu Deut-
schen geworden. Daß die Eigenthümlichkeit eines Volks nicht sowohl durch die
Race. als durch den Charakter seiner Cultur bestimmt wird, daß nicht der Stamm¬
baum, sondern die Bildungsgeschichte dafür maßgebend ist. ob es der einen oder
der anderen Völkerfamilie zuzuzählen ist, das kann heutzutage für ausgemacht
anWehen werden', und nur der Ueberspanntheit des zum Schwindel gewordene«
NativnMtätSprincips ist- es zuzuschreiben, wenn Versprengte Völkersplitter, die


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[0443] Handlung über das lettische Volkslied setzt ein keltischer Parteiführer. Herr Beesbardis. den'Lesern auseinander, daß die wahrhaft poetischen Weisen seines Völkchens keltisch-nationalen, mithin slawischen Ursprungs seien, die meist „zo¬ tigen" SaUf- und Gelaglieder desselben sich aber auf deutsche Originale zurück- führen ließen, und „keinen geringen" Beitrag zur Charakteristik der livländischen Gesellschaft des Neformationszeitalters lieferten. Ein anderer Patriot bespricht .,Zustünde und Eigenthümlichkeiten der baltischen Provinzen Rußlands", um dieselben schließlich als „schauerliche Beweise menschlicher Thorheit" vor aller Welt zu brandmarken, ein dritter handelt über mercantile und gewerbliche Zustände derselben Provinzen und empfiehlt den Bewohnern derselben behufs Verbesse, ring ihrer Handelsbilance „Bekehrung" zu aufrichtiger Eintracht mit Rußland und „rückhaltslose Hingebung an das gemeinsame Regentenhaus" und um den Standpunkt der Redaction möglichst scharf zu bezeichnen, wird schließlich mit Genugthuung' von einem in der deutschen Presse meist vielbesprochenen Ukas Act genommen, durch welchen den baltischen Journalen int Interesse der Auf¬ rechterhaltung des Friedens verboten worden war. auf die Anklagen und Pro- ^ocaiiontn der Zeitblätter Moskaus und Petersburgs zu antworten! Von dem verstorbenen Kaiser Nikolaus von Nußland wird erzählt, er habe, als ihni' berichtet worden, der Russe Bakunin sei einer der Führer des dresdener Maiaufstandes gewesen, ausgerufen: „Nun ich freue mich, daß man in Deutsch, land nicht einmal Revolution machen kann, ohne daß ein Russe den Führer abgiebt!" Wir haben nicht weiter zu 'untersuchen, in wieweit dieser Satz be- gründet war — näher liegt es, denselben mit einer kleinen Modification auf den vorliegenden Fall anzuwenden und zu behaupten, die slawischen, wie manche anders Völker unseres Welttheils vermöchten nicht einmal eine nationale Mode¬ thorheit in Scene zu setzen, ohne daß ein Deutscher den Chorführer des Reigens abgiebt. Unter einen andern als den Gesichtspunkt der Modethorheit wissen wir die baunener Caricatur des Nationalitätsprincips und der pänslawisiischen Welthtrrschaftsgelüfle aber kaum zu bringen. Seit J 'hrhunderten von deutschen Stämmen umgeben und in ein deutsches Staatensystem eingefügt, von deutscher Cultur und Bildung genährt, und ausschließlich durch den Einfluß dieser der Wohlthaten der Civilisation theilhaft gemacht, haben die lausitzer Wenden irr Wahrheit längst aufgehört, an der Entwickelung des slawischen Völkerlebens theilzunehmen, sind sie trotz der Ueberreste ihrer Volkssprache längst zu Deut- schen geworden. Daß die Eigenthümlichkeit eines Volks nicht sowohl durch die Race. als durch den Charakter seiner Cultur bestimmt wird, daß nicht der Stamm¬ baum, sondern die Bildungsgeschichte dafür maßgebend ist. ob es der einen oder der anderen Völkerfamilie zuzuzählen ist, das kann heutzutage für ausgemacht anWehen werden', und nur der Ueberspanntheit des zum Schwindel gewordene« NativnMtätSprincips ist- es zuzuschreiben, wenn Versprengte Völkersplitter, die 56*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/443>, abgerufen am 03.07.2024.