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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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rend einiger Stunden aus dem Joche gespannt hatten. Das übrige Publikum
schien ebenfalls dem "soliden" Mittelstände anzugehören. Es war seelenver¬
gnügt. Haben diese Züge von öffentlicher Schamlosigkeit unter dem Kaiserreiche
zugenommen, so bürgert sich seit einigen Jahren -- vielleicht noch bedenklicher
-- der Genuß der spirituösen mehr und mehr in Paris ein.

Alle südlichen Völker sind von Natur dem Trunke abgeneigt. Mir wurde
versichert, daß dies anders werde. -- Auch Paris hat seine Ginpaläste er.
halten.

Ich hüte mich, aus solchen Einzelheiten einen Schluß auf den zunehmenden
Sittenverfall der französischen Hauptstadt zu machen. Dergleichen Berechnungen
sind trüglich. Für die laxe Moral der Negierung geben sie aber doch einen
ungefähren Maßstab ab.

Im Ganzen darf man behaupten: der Umbau und die Verschönerung der
Stadt Paris haben nicht nur den Charakter der Stadt verändert, auch der
Charakter der Pariser ist von dieser Veränderung betroffen. Wenn ein fran¬
zösischer Tragödiendichtcr Paris früher einmal als Achilles personificirte, so
denke ich, ist es jetzt schon eher mit dem schmucken, aber weichlichen Entführer
der Helena zu vergleichen. Es ist ohne Unterlaß mit seiner Toilette beschäftigt
und zwar zu seiner steten und wachsenden Befriedigung. An allen Ecken neu;
wo immer sichs ins Auge faßt, sich selber ein Gegenstand beglückten Staunens;
dazu durch den fortwährenden Zuwachs der Bevölkerung unter dem beständigen
Eindrucke gedeihlichsten Aufschwunges; -- was Wunder, wenn es über dem
eignen Hausbau die Weltenbaumeisierrolle vergißt, von welcher es so lange Zeit
erfüllt war!

Diese unliebenswürdige Rolle beginnt die jenige Generation, wenn mich
nicht alles täuscht, in der That zu vergessen. Von den großartigen Einrich¬
tungen zum Comfort des Lebens umgeben, des politischen Denkens entwöhnt
und gewitzigt durch die üblen Erfahrungen früherer parteizerklüfteter Zeiten;
dabei durch Entfesselung des Handels in mannigfacher Weise zu neuen Wag¬
nissen merkantiler Art angereizt; durch die unternommenen Neubauten mit
Schulden belastet; so steht das neue Paris den Welthändeln mit der Miene
eines eben frisch und behaglich eingerichteten Lebe- und Handelsmannes gegen¬
über und bittet um -- Ruhe.

Aber die Zeitungen! ruft man mir zu.

Ich glaube, nachdem sich die französischen Zeitungsleser fast zwei Jahr¬
zehnte lang an die schüchterne Meinungslosigkeit der französischen Presse ge¬
wöhnten, darf man ihnen nicht die Fähigkeit zumuthen, um einer auf 14 Tage
oder vier Wochen freigegebenen Polemik willen sich in den Harnisch bringen
zu lassen.

Aber die Armee! -- Da möchte ich fragen: sind schon Anzeichen da, daß


rend einiger Stunden aus dem Joche gespannt hatten. Das übrige Publikum
schien ebenfalls dem „soliden" Mittelstände anzugehören. Es war seelenver¬
gnügt. Haben diese Züge von öffentlicher Schamlosigkeit unter dem Kaiserreiche
zugenommen, so bürgert sich seit einigen Jahren — vielleicht noch bedenklicher
— der Genuß der spirituösen mehr und mehr in Paris ein.

Alle südlichen Völker sind von Natur dem Trunke abgeneigt. Mir wurde
versichert, daß dies anders werde. — Auch Paris hat seine Ginpaläste er.
halten.

Ich hüte mich, aus solchen Einzelheiten einen Schluß auf den zunehmenden
Sittenverfall der französischen Hauptstadt zu machen. Dergleichen Berechnungen
sind trüglich. Für die laxe Moral der Negierung geben sie aber doch einen
ungefähren Maßstab ab.

Im Ganzen darf man behaupten: der Umbau und die Verschönerung der
Stadt Paris haben nicht nur den Charakter der Stadt verändert, auch der
Charakter der Pariser ist von dieser Veränderung betroffen. Wenn ein fran¬
zösischer Tragödiendichtcr Paris früher einmal als Achilles personificirte, so
denke ich, ist es jetzt schon eher mit dem schmucken, aber weichlichen Entführer
der Helena zu vergleichen. Es ist ohne Unterlaß mit seiner Toilette beschäftigt
und zwar zu seiner steten und wachsenden Befriedigung. An allen Ecken neu;
wo immer sichs ins Auge faßt, sich selber ein Gegenstand beglückten Staunens;
dazu durch den fortwährenden Zuwachs der Bevölkerung unter dem beständigen
Eindrucke gedeihlichsten Aufschwunges; — was Wunder, wenn es über dem
eignen Hausbau die Weltenbaumeisierrolle vergißt, von welcher es so lange Zeit
erfüllt war!

Diese unliebenswürdige Rolle beginnt die jenige Generation, wenn mich
nicht alles täuscht, in der That zu vergessen. Von den großartigen Einrich¬
tungen zum Comfort des Lebens umgeben, des politischen Denkens entwöhnt
und gewitzigt durch die üblen Erfahrungen früherer parteizerklüfteter Zeiten;
dabei durch Entfesselung des Handels in mannigfacher Weise zu neuen Wag¬
nissen merkantiler Art angereizt; durch die unternommenen Neubauten mit
Schulden belastet; so steht das neue Paris den Welthändeln mit der Miene
eines eben frisch und behaglich eingerichteten Lebe- und Handelsmannes gegen¬
über und bittet um — Ruhe.

Aber die Zeitungen! ruft man mir zu.

Ich glaube, nachdem sich die französischen Zeitungsleser fast zwei Jahr¬
zehnte lang an die schüchterne Meinungslosigkeit der französischen Presse ge¬
wöhnten, darf man ihnen nicht die Fähigkeit zumuthen, um einer auf 14 Tage
oder vier Wochen freigegebenen Polemik willen sich in den Harnisch bringen
zu lassen.

Aber die Armee! — Da möchte ich fragen: sind schon Anzeichen da, daß


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[0350] rend einiger Stunden aus dem Joche gespannt hatten. Das übrige Publikum schien ebenfalls dem „soliden" Mittelstände anzugehören. Es war seelenver¬ gnügt. Haben diese Züge von öffentlicher Schamlosigkeit unter dem Kaiserreiche zugenommen, so bürgert sich seit einigen Jahren — vielleicht noch bedenklicher — der Genuß der spirituösen mehr und mehr in Paris ein. Alle südlichen Völker sind von Natur dem Trunke abgeneigt. Mir wurde versichert, daß dies anders werde. — Auch Paris hat seine Ginpaläste er. halten. Ich hüte mich, aus solchen Einzelheiten einen Schluß auf den zunehmenden Sittenverfall der französischen Hauptstadt zu machen. Dergleichen Berechnungen sind trüglich. Für die laxe Moral der Negierung geben sie aber doch einen ungefähren Maßstab ab. Im Ganzen darf man behaupten: der Umbau und die Verschönerung der Stadt Paris haben nicht nur den Charakter der Stadt verändert, auch der Charakter der Pariser ist von dieser Veränderung betroffen. Wenn ein fran¬ zösischer Tragödiendichtcr Paris früher einmal als Achilles personificirte, so denke ich, ist es jetzt schon eher mit dem schmucken, aber weichlichen Entführer der Helena zu vergleichen. Es ist ohne Unterlaß mit seiner Toilette beschäftigt und zwar zu seiner steten und wachsenden Befriedigung. An allen Ecken neu; wo immer sichs ins Auge faßt, sich selber ein Gegenstand beglückten Staunens; dazu durch den fortwährenden Zuwachs der Bevölkerung unter dem beständigen Eindrucke gedeihlichsten Aufschwunges; — was Wunder, wenn es über dem eignen Hausbau die Weltenbaumeisierrolle vergißt, von welcher es so lange Zeit erfüllt war! Diese unliebenswürdige Rolle beginnt die jenige Generation, wenn mich nicht alles täuscht, in der That zu vergessen. Von den großartigen Einrich¬ tungen zum Comfort des Lebens umgeben, des politischen Denkens entwöhnt und gewitzigt durch die üblen Erfahrungen früherer parteizerklüfteter Zeiten; dabei durch Entfesselung des Handels in mannigfacher Weise zu neuen Wag¬ nissen merkantiler Art angereizt; durch die unternommenen Neubauten mit Schulden belastet; so steht das neue Paris den Welthändeln mit der Miene eines eben frisch und behaglich eingerichteten Lebe- und Handelsmannes gegen¬ über und bittet um — Ruhe. Aber die Zeitungen! ruft man mir zu. Ich glaube, nachdem sich die französischen Zeitungsleser fast zwei Jahr¬ zehnte lang an die schüchterne Meinungslosigkeit der französischen Presse ge¬ wöhnten, darf man ihnen nicht die Fähigkeit zumuthen, um einer auf 14 Tage oder vier Wochen freigegebenen Polemik willen sich in den Harnisch bringen zu lassen. Aber die Armee! — Da möchte ich fragen: sind schon Anzeichen da, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/350>, abgerufen am 22.07.2024.