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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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änderung ihres Charakters. Paris ist in Wahrheit nicht mehr Paris. Die
Arbeiterspelunken sind verschwunden. Die Fabriken sind in die dö-nlikue und
in die längs den Eisenbahnen verstreuten Flecken und Weiler verwiesen. Die
Blouse ist ins Freie ausgewandert und kommt nur in die Stadt, um sich zu
Vergnügen. Das ist ein Staatsstreich der praktischsten Art.

Damit ist nicht die Arbeit aus Paris verwiesen. Als Mittelpunkt einer
riesigen Luxusindustrie gleicht es heute wie ehemals einem Bienenkorbe, und
wenn man die pariser Läden den ganzen Sonntag und an Wochentagen fast
bis Mitternacht geöffnet sieht, erkennt man leicht, daß dem modernen Paris seine
alte Arbeitsemsigkeit nicht verringert ist. Wenn die Steigerung der Vergnügungs¬
sucht den Pariser und die Pariserin kurzlebiger macht und rascher aufreibt, hat
sie beide womöglich noch arbeitsamer gemacht. Man strengt alle Kräfte an. um
seine Bedürfnisse vollständiger zu befriedigen. Da alles für Geld zugänglich
und jeder Genuß erlaubt ist, so heißt es: immer wieder Geld erbeuten, denn
durch das Geld gelangt man erst zum Genießen.

Daß jeder unpolitische Genuß erlaubt, ja begünstigt wird, schließt väter¬
liche Ueberwachung durch Polizei nicht aus. Die zahlreiche über ganz Paris
verstreute Armee von Gensdarmen -- sehr höfliche und nützliche Leute --
erinnert sogar beständig an die Allgegenwart des Gesetzes. Ihre Forderungen
an die sittliche Führung des Individuums sind indessen immer laxer geworden,
sogar bei den öffentlichen Vergnügungen. Es ist freilich ein unsicherer Ther¬
mometer. Der Cancan gilt denn heute auch kaum noch für anstößig. Eine
der kühnsten Erfindungen Terpsichorcns -- insoweit diese Göttin für die roti-
renden Bewegungen der Neuzeit noch verantwortlich ist -- besteht darin, daß
die Tänzerin ihren Chapeau gradezu unter ihrem Kleide einfängt; um das zu
können, muß die Schöne ihrem Gewände begreiflicherweise ziemlich excentrische
Schwingungen gestatten, bis sichs plötzlich mit einer geschickten Wendung als
Hühnerkorb über dem Verwirrten niederläßt. Geschmackvoll ist diese Tour nicht.
Daß die Wächter der öffentlichen Moral nichts dawider einzuwenden haben,
befremdet längst nicht mehr. Wohl aber ists ein Zeichen der Zeit, daß auch
die Theater ähnliche und ärgere Ausschreitungen bacchantischen Taumels un¬
beanstandet bringen dürfen. In "1s. vis Mrisiermv" habe ich einiges davon
erlebt. Man giebt diese Posse im Theater des Palais royal, der Bühne, ans
welcher ehemals die Desjazet glänzte. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß sich
das Publikum durchaus nicht verletzt zeigt. Ein Ehepaar, das meine Loge
theilte, amüsirte sich im Gegentheil vortrefflich. Es waren Bürgersleute -- er
ein tumiLw aus dem Elsaß, Chef einer großen Ofenfabrik, sie eine schliesse
Pariserin, die sich ebenso harmlos an dem Cancanspectakel erfreuten wie sie
kurz zuvor verständig über Gesellennvtb, Wohnungsfragen und Kindererziehung
gesprochen hatten, beide wahrscheinlich ehrbare und fleißige Leute, die sich wäy-


Grenzboten II. I8K7, 44

änderung ihres Charakters. Paris ist in Wahrheit nicht mehr Paris. Die
Arbeiterspelunken sind verschwunden. Die Fabriken sind in die dö-nlikue und
in die längs den Eisenbahnen verstreuten Flecken und Weiler verwiesen. Die
Blouse ist ins Freie ausgewandert und kommt nur in die Stadt, um sich zu
Vergnügen. Das ist ein Staatsstreich der praktischsten Art.

Damit ist nicht die Arbeit aus Paris verwiesen. Als Mittelpunkt einer
riesigen Luxusindustrie gleicht es heute wie ehemals einem Bienenkorbe, und
wenn man die pariser Läden den ganzen Sonntag und an Wochentagen fast
bis Mitternacht geöffnet sieht, erkennt man leicht, daß dem modernen Paris seine
alte Arbeitsemsigkeit nicht verringert ist. Wenn die Steigerung der Vergnügungs¬
sucht den Pariser und die Pariserin kurzlebiger macht und rascher aufreibt, hat
sie beide womöglich noch arbeitsamer gemacht. Man strengt alle Kräfte an. um
seine Bedürfnisse vollständiger zu befriedigen. Da alles für Geld zugänglich
und jeder Genuß erlaubt ist, so heißt es: immer wieder Geld erbeuten, denn
durch das Geld gelangt man erst zum Genießen.

Daß jeder unpolitische Genuß erlaubt, ja begünstigt wird, schließt väter¬
liche Ueberwachung durch Polizei nicht aus. Die zahlreiche über ganz Paris
verstreute Armee von Gensdarmen — sehr höfliche und nützliche Leute —
erinnert sogar beständig an die Allgegenwart des Gesetzes. Ihre Forderungen
an die sittliche Führung des Individuums sind indessen immer laxer geworden,
sogar bei den öffentlichen Vergnügungen. Es ist freilich ein unsicherer Ther¬
mometer. Der Cancan gilt denn heute auch kaum noch für anstößig. Eine
der kühnsten Erfindungen Terpsichorcns — insoweit diese Göttin für die roti-
renden Bewegungen der Neuzeit noch verantwortlich ist — besteht darin, daß
die Tänzerin ihren Chapeau gradezu unter ihrem Kleide einfängt; um das zu
können, muß die Schöne ihrem Gewände begreiflicherweise ziemlich excentrische
Schwingungen gestatten, bis sichs plötzlich mit einer geschickten Wendung als
Hühnerkorb über dem Verwirrten niederläßt. Geschmackvoll ist diese Tour nicht.
Daß die Wächter der öffentlichen Moral nichts dawider einzuwenden haben,
befremdet längst nicht mehr. Wohl aber ists ein Zeichen der Zeit, daß auch
die Theater ähnliche und ärgere Ausschreitungen bacchantischen Taumels un¬
beanstandet bringen dürfen. In „1s. vis Mrisiermv" habe ich einiges davon
erlebt. Man giebt diese Posse im Theater des Palais royal, der Bühne, ans
welcher ehemals die Desjazet glänzte. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß sich
das Publikum durchaus nicht verletzt zeigt. Ein Ehepaar, das meine Loge
theilte, amüsirte sich im Gegentheil vortrefflich. Es waren Bürgersleute — er
ein tumiLw aus dem Elsaß, Chef einer großen Ofenfabrik, sie eine schliesse
Pariserin, die sich ebenso harmlos an dem Cancanspectakel erfreuten wie sie
kurz zuvor verständig über Gesellennvtb, Wohnungsfragen und Kindererziehung
gesprochen hatten, beide wahrscheinlich ehrbare und fleißige Leute, die sich wäy-


Grenzboten II. I8K7, 44
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[0349] änderung ihres Charakters. Paris ist in Wahrheit nicht mehr Paris. Die Arbeiterspelunken sind verschwunden. Die Fabriken sind in die dö-nlikue und in die längs den Eisenbahnen verstreuten Flecken und Weiler verwiesen. Die Blouse ist ins Freie ausgewandert und kommt nur in die Stadt, um sich zu Vergnügen. Das ist ein Staatsstreich der praktischsten Art. Damit ist nicht die Arbeit aus Paris verwiesen. Als Mittelpunkt einer riesigen Luxusindustrie gleicht es heute wie ehemals einem Bienenkorbe, und wenn man die pariser Läden den ganzen Sonntag und an Wochentagen fast bis Mitternacht geöffnet sieht, erkennt man leicht, daß dem modernen Paris seine alte Arbeitsemsigkeit nicht verringert ist. Wenn die Steigerung der Vergnügungs¬ sucht den Pariser und die Pariserin kurzlebiger macht und rascher aufreibt, hat sie beide womöglich noch arbeitsamer gemacht. Man strengt alle Kräfte an. um seine Bedürfnisse vollständiger zu befriedigen. Da alles für Geld zugänglich und jeder Genuß erlaubt ist, so heißt es: immer wieder Geld erbeuten, denn durch das Geld gelangt man erst zum Genießen. Daß jeder unpolitische Genuß erlaubt, ja begünstigt wird, schließt väter¬ liche Ueberwachung durch Polizei nicht aus. Die zahlreiche über ganz Paris verstreute Armee von Gensdarmen — sehr höfliche und nützliche Leute — erinnert sogar beständig an die Allgegenwart des Gesetzes. Ihre Forderungen an die sittliche Führung des Individuums sind indessen immer laxer geworden, sogar bei den öffentlichen Vergnügungen. Es ist freilich ein unsicherer Ther¬ mometer. Der Cancan gilt denn heute auch kaum noch für anstößig. Eine der kühnsten Erfindungen Terpsichorcns — insoweit diese Göttin für die roti- renden Bewegungen der Neuzeit noch verantwortlich ist — besteht darin, daß die Tänzerin ihren Chapeau gradezu unter ihrem Kleide einfängt; um das zu können, muß die Schöne ihrem Gewände begreiflicherweise ziemlich excentrische Schwingungen gestatten, bis sichs plötzlich mit einer geschickten Wendung als Hühnerkorb über dem Verwirrten niederläßt. Geschmackvoll ist diese Tour nicht. Daß die Wächter der öffentlichen Moral nichts dawider einzuwenden haben, befremdet längst nicht mehr. Wohl aber ists ein Zeichen der Zeit, daß auch die Theater ähnliche und ärgere Ausschreitungen bacchantischen Taumels un¬ beanstandet bringen dürfen. In „1s. vis Mrisiermv" habe ich einiges davon erlebt. Man giebt diese Posse im Theater des Palais royal, der Bühne, ans welcher ehemals die Desjazet glänzte. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß sich das Publikum durchaus nicht verletzt zeigt. Ein Ehepaar, das meine Loge theilte, amüsirte sich im Gegentheil vortrefflich. Es waren Bürgersleute — er ein tumiLw aus dem Elsaß, Chef einer großen Ofenfabrik, sie eine schliesse Pariserin, die sich ebenso harmlos an dem Cancanspectakel erfreuten wie sie kurz zuvor verständig über Gesellennvtb, Wohnungsfragen und Kindererziehung gesprochen hatten, beide wahrscheinlich ehrbare und fleißige Leute, die sich wäy- Grenzboten II. I8K7, 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/349>, abgerufen am 22.07.2024.