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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Wir wissen nicht, ob in den Zeiten, da die Monographie überall durch¬
gedrungen sein wird, der Grammatik der Muttersprache unter den Unterrichts-
gegenständen ein bescheidenes Plätzchen verbleibt oder nicht; wenn ja, dann
wohl uns. daß wir nicht unsere Enkel sind, daß die schwierige Wissenschaft vom
Participe Pass6 unter so erschwerenden Umständen erst über unsern Gräbern ge¬
lehrt und gelernt werden muß, daß wir nicht erklären und nicht begreifen müssen,
warum man sagt! ^'6 öqri, le livrö q'it g. öqri, 16 livre q'it g, öqri, ig, lötre
q'it a öqritg, is dito c>'it A eqrit ier, 16 Kilo q'it g. öczri? ier u. tgi. Und
dies ist nur ein Beispiel. Müßte nicht, wenn die Phonographie oder doch eine
Monographie mit unbedingter Unterdrückung aller zeitweise "stummen" Buch¬
staben zum Siege gelangte, in kurzem eine tief greifende Umgestaltung der
Sprache erfolgen? Könnte z. B. das Französische unter diesen Umständen bei
dem jetzigen Stande seiner Syntax der Kongruenz verbleiben? Wir können es
nicht glauben; und weil wir nicht wünsche", daß der ruhige Verlauf literari¬
scher Ueberlieferung ohne Noth unterbrochen werde, weil wir verhüten möchten,
daß das heutige Französisch in hundert Jahren altfranzösisch sei, sträuben wir
uns gegen so gewaltthätig"! Eingriffe. Zweierlei wird man uns entgegen¬
halten: einmal das Wesen der Schrift, deren Aufgabe es nicht sein könne, be¬
stimmend auf die Sprache zurückzuwirken oder das Weiterschreiten derselben auf
einer abschüssigen Bahn zu hemmen, und die Versicherung, man wolle die bis¬
herige Schreibweise auch weiterhin dulden, sie solle noch lange fortbestehen,
"wie das Lateinische Jahrhunderte lang die gelehrte und einzig geschriebene
Sprache gewesen sei", die neue Schreibweise solle nur denen zu Statten kommen,
welche blos den elementarsten Schulunterricht genießen können. Was das Erstere
betrifft, so soll allerdings die Schrift nicht den Anspruch erheben, die Sprache
habe sich nach ihr zu richten; aber sie soll ein in wohlthätiger Weise conser-
vativ wirkendes Element sein und den in unseren Tagen ganz unberechenbaren
Einfluß auf die Wahrung des Sprachbestandes (wäre es auch in manchen
Fällen nur im Bewußtsein oder Gefühl der Sprechenden) soll sie nicht ohne
Noth preisgeben.

In Bezug auf das Zweite möchten wir, nachdem wir der Lateinschrciberei
so ziemlich ledig geworden sind, nachdem wir endlich die Schranken nieder¬
gerissen haben, welche gewisse Classen des Volkes vom Mitbesitz des geistigen
Vermögens der Nationen ausschlossen, nicht über Nacht neue Scheidewände
errichtet sehen. Der Unterricht der Volksschule soll den Zutritt zu noch anderen
Dingen eröffnen als zu einer phonographisch zu druckenden Bibel, einem Kate¬
chismus und einem Localblättchen, und jenseits der Volksschule soll nicht der
zweite Leseunterricht beginnen für die Auserwählten, die über zwei Alphabete
verfügen werden. Sucht lieber Mittel und Wege, daß die Theilnahme am
jetzigen Sprachunterricht immer Mehrern erleichtert werde, arbeitet an der


Wir wissen nicht, ob in den Zeiten, da die Monographie überall durch¬
gedrungen sein wird, der Grammatik der Muttersprache unter den Unterrichts-
gegenständen ein bescheidenes Plätzchen verbleibt oder nicht; wenn ja, dann
wohl uns. daß wir nicht unsere Enkel sind, daß die schwierige Wissenschaft vom
Participe Pass6 unter so erschwerenden Umständen erst über unsern Gräbern ge¬
lehrt und gelernt werden muß, daß wir nicht erklären und nicht begreifen müssen,
warum man sagt! ^'6 öqri, le livrö q'it g. öqri, 16 livre q'it g, öqri, ig, lötre
q'it a öqritg, is dito c>'it A eqrit ier, 16 Kilo q'it g. öczri? ier u. tgi. Und
dies ist nur ein Beispiel. Müßte nicht, wenn die Phonographie oder doch eine
Monographie mit unbedingter Unterdrückung aller zeitweise „stummen" Buch¬
staben zum Siege gelangte, in kurzem eine tief greifende Umgestaltung der
Sprache erfolgen? Könnte z. B. das Französische unter diesen Umständen bei
dem jetzigen Stande seiner Syntax der Kongruenz verbleiben? Wir können es
nicht glauben; und weil wir nicht wünsche», daß der ruhige Verlauf literari¬
scher Ueberlieferung ohne Noth unterbrochen werde, weil wir verhüten möchten,
daß das heutige Französisch in hundert Jahren altfranzösisch sei, sträuben wir
uns gegen so gewaltthätig«! Eingriffe. Zweierlei wird man uns entgegen¬
halten: einmal das Wesen der Schrift, deren Aufgabe es nicht sein könne, be¬
stimmend auf die Sprache zurückzuwirken oder das Weiterschreiten derselben auf
einer abschüssigen Bahn zu hemmen, und die Versicherung, man wolle die bis¬
herige Schreibweise auch weiterhin dulden, sie solle noch lange fortbestehen,
„wie das Lateinische Jahrhunderte lang die gelehrte und einzig geschriebene
Sprache gewesen sei", die neue Schreibweise solle nur denen zu Statten kommen,
welche blos den elementarsten Schulunterricht genießen können. Was das Erstere
betrifft, so soll allerdings die Schrift nicht den Anspruch erheben, die Sprache
habe sich nach ihr zu richten; aber sie soll ein in wohlthätiger Weise conser-
vativ wirkendes Element sein und den in unseren Tagen ganz unberechenbaren
Einfluß auf die Wahrung des Sprachbestandes (wäre es auch in manchen
Fällen nur im Bewußtsein oder Gefühl der Sprechenden) soll sie nicht ohne
Noth preisgeben.

In Bezug auf das Zweite möchten wir, nachdem wir der Lateinschrciberei
so ziemlich ledig geworden sind, nachdem wir endlich die Schranken nieder¬
gerissen haben, welche gewisse Classen des Volkes vom Mitbesitz des geistigen
Vermögens der Nationen ausschlossen, nicht über Nacht neue Scheidewände
errichtet sehen. Der Unterricht der Volksschule soll den Zutritt zu noch anderen
Dingen eröffnen als zu einer phonographisch zu druckenden Bibel, einem Kate¬
chismus und einem Localblättchen, und jenseits der Volksschule soll nicht der
zweite Leseunterricht beginnen für die Auserwählten, die über zwei Alphabete
verfügen werden. Sucht lieber Mittel und Wege, daß die Theilnahme am
jetzigen Sprachunterricht immer Mehrern erleichtert werde, arbeitet an der


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[0198] Wir wissen nicht, ob in den Zeiten, da die Monographie überall durch¬ gedrungen sein wird, der Grammatik der Muttersprache unter den Unterrichts- gegenständen ein bescheidenes Plätzchen verbleibt oder nicht; wenn ja, dann wohl uns. daß wir nicht unsere Enkel sind, daß die schwierige Wissenschaft vom Participe Pass6 unter so erschwerenden Umständen erst über unsern Gräbern ge¬ lehrt und gelernt werden muß, daß wir nicht erklären und nicht begreifen müssen, warum man sagt! ^'6 öqri, le livrö q'it g. öqri, 16 livre q'it g, öqri, ig, lötre q'it a öqritg, is dito c>'it A eqrit ier, 16 Kilo q'it g. öczri? ier u. tgi. Und dies ist nur ein Beispiel. Müßte nicht, wenn die Phonographie oder doch eine Monographie mit unbedingter Unterdrückung aller zeitweise „stummen" Buch¬ staben zum Siege gelangte, in kurzem eine tief greifende Umgestaltung der Sprache erfolgen? Könnte z. B. das Französische unter diesen Umständen bei dem jetzigen Stande seiner Syntax der Kongruenz verbleiben? Wir können es nicht glauben; und weil wir nicht wünsche», daß der ruhige Verlauf literari¬ scher Ueberlieferung ohne Noth unterbrochen werde, weil wir verhüten möchten, daß das heutige Französisch in hundert Jahren altfranzösisch sei, sträuben wir uns gegen so gewaltthätig«! Eingriffe. Zweierlei wird man uns entgegen¬ halten: einmal das Wesen der Schrift, deren Aufgabe es nicht sein könne, be¬ stimmend auf die Sprache zurückzuwirken oder das Weiterschreiten derselben auf einer abschüssigen Bahn zu hemmen, und die Versicherung, man wolle die bis¬ herige Schreibweise auch weiterhin dulden, sie solle noch lange fortbestehen, „wie das Lateinische Jahrhunderte lang die gelehrte und einzig geschriebene Sprache gewesen sei", die neue Schreibweise solle nur denen zu Statten kommen, welche blos den elementarsten Schulunterricht genießen können. Was das Erstere betrifft, so soll allerdings die Schrift nicht den Anspruch erheben, die Sprache habe sich nach ihr zu richten; aber sie soll ein in wohlthätiger Weise conser- vativ wirkendes Element sein und den in unseren Tagen ganz unberechenbaren Einfluß auf die Wahrung des Sprachbestandes (wäre es auch in manchen Fällen nur im Bewußtsein oder Gefühl der Sprechenden) soll sie nicht ohne Noth preisgeben. In Bezug auf das Zweite möchten wir, nachdem wir der Lateinschrciberei so ziemlich ledig geworden sind, nachdem wir endlich die Schranken nieder¬ gerissen haben, welche gewisse Classen des Volkes vom Mitbesitz des geistigen Vermögens der Nationen ausschlossen, nicht über Nacht neue Scheidewände errichtet sehen. Der Unterricht der Volksschule soll den Zutritt zu noch anderen Dingen eröffnen als zu einer phonographisch zu druckenden Bibel, einem Kate¬ chismus und einem Localblättchen, und jenseits der Volksschule soll nicht der zweite Leseunterricht beginnen für die Auserwählten, die über zwei Alphabete verfügen werden. Sucht lieber Mittel und Wege, daß die Theilnahme am jetzigen Sprachunterricht immer Mehrern erleichtert werde, arbeitet an der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/198>, abgerufen am 28.09.2024.