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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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rüheren Schwierigfeiten bei Formirung neuer Truppentheile nicht gehoben, son¬
dern nur vermindert waren, daß eine Radicalreform nothwendig sei, die
die Aufhebung der Leibeigenschaft sammt der durch diese bedingten Möglichkeit
häufigerer Aushebungen und kürzerer Dienstzeiten, zur Voraussetzung habe.

In der That datirt die wahrhafte Reorganisation der russischen Armee erst
Vom Jahre 1862. Was bis dahin geschehen, war darum aber nicht vergeblich
gethan worden: Der Bruch mit den Traditionen des alten araktschejewschen
Systems, das die Soldaten zu leblosen Exerciermaschinen machte, vollzog sich
grade in den Jahren vor der Beendigung des Krimkrieges bis zur Aufhebung
der Leibeigenschaft, während die Gewöhnung an das neue Exercierreglement
gleichzeitige Fortschritte machte. Um die durch den orientalischen Krieg zufolge
zahlreicher Rekrutirungen nahezu zerstörte Arbeitskraft der ländlichen Bevölkerung
zu schonen und neu zu kräftigen und bis zum Eintritt der Bauernsreiheit und
der durch diese ermöglichten Veränderung der Aushebungsmethode unnütze Opfer
an das alte System zu ersparen, wurde sechs Jahre lang (1856--1862) nicht
ein einziger Rekrut ausgehoben.

Auf die Einzelheiten des Reformsystems, mit welchem sodann der gegen¬
wärtige russische Kriegsminister, General Miljutin, im I. 1862 hervortrat, können
wir selbstverständlich nicht eingehen. Indem derselbe vor allem darauf bedacht
war, die vorhandenen Bedürfnisse mit den Mitteln in das gehörige Gleich¬
gewicht und die directeste Beziehung zu setzen, das Wehrsystem den Eigen¬
thümlichkeiten des Staatsorganismus und der Nation anzupassen, begann er
damit, die Militärverwaltung zu decentralisiren und von dem Joch eines büreau-
kratischen Mechanismus zu befreien, der um so unerträglicher war, als seine Träger
von jeher alle übrigen Beamten des Reichs an Unbildung, Korruption und
Willkürlichkeit Übertrossen hatten. Das ganze europäische Rußland wurde --
nach dem Beispiele Frankreichs-- in die acht Militärbezirke von Petersburg,
Moskau, Orenburg, Kiew (südwestliche Gouvernements), Wilna (nordwest¬
liche Gouvernements), Helsingfors (Finnland), Riga (Ostseeprovinzen) und
Warschau (Königreich Polen) getheilt; an der Spitze jedes derselben steht
ein selbständiger Oberbefehlshaber mit einem eigenen Stäbe und einer selb¬
ständigen Proviant- und Fourageverwaltung; während der Kriegsminister mit der
Oberverwaltung und Aussicht betraut ist, wird die eigentliche Technik der Ver¬
waltung und Verpflegung von den Bezirksbefehlshabern gehandhabt, auf
denen selbstverständlich ein hoher Grad von Verantwortlichkeit ruht. Die zahl¬
reichen Cadettenhciuser und sonstigen militärischen Fachschulen, bis dazu Stätten
der Entsittlichung und Unwissenheit, wurden gleichfalls vollständig umgestaltet,
die Pensionate aufgehoben, die Anstalten selbst in Militärgymnasien verwandelt.
Von großer Wichtigkeit waren ferner die Reorganisation des Kosakenheers, Vie
Aushebung der Militärcolonien in Orenburg u. s. w. Was die neue Organi-


rüheren Schwierigfeiten bei Formirung neuer Truppentheile nicht gehoben, son¬
dern nur vermindert waren, daß eine Radicalreform nothwendig sei, die
die Aufhebung der Leibeigenschaft sammt der durch diese bedingten Möglichkeit
häufigerer Aushebungen und kürzerer Dienstzeiten, zur Voraussetzung habe.

In der That datirt die wahrhafte Reorganisation der russischen Armee erst
Vom Jahre 1862. Was bis dahin geschehen, war darum aber nicht vergeblich
gethan worden: Der Bruch mit den Traditionen des alten araktschejewschen
Systems, das die Soldaten zu leblosen Exerciermaschinen machte, vollzog sich
grade in den Jahren vor der Beendigung des Krimkrieges bis zur Aufhebung
der Leibeigenschaft, während die Gewöhnung an das neue Exercierreglement
gleichzeitige Fortschritte machte. Um die durch den orientalischen Krieg zufolge
zahlreicher Rekrutirungen nahezu zerstörte Arbeitskraft der ländlichen Bevölkerung
zu schonen und neu zu kräftigen und bis zum Eintritt der Bauernsreiheit und
der durch diese ermöglichten Veränderung der Aushebungsmethode unnütze Opfer
an das alte System zu ersparen, wurde sechs Jahre lang (1856—1862) nicht
ein einziger Rekrut ausgehoben.

Auf die Einzelheiten des Reformsystems, mit welchem sodann der gegen¬
wärtige russische Kriegsminister, General Miljutin, im I. 1862 hervortrat, können
wir selbstverständlich nicht eingehen. Indem derselbe vor allem darauf bedacht
war, die vorhandenen Bedürfnisse mit den Mitteln in das gehörige Gleich¬
gewicht und die directeste Beziehung zu setzen, das Wehrsystem den Eigen¬
thümlichkeiten des Staatsorganismus und der Nation anzupassen, begann er
damit, die Militärverwaltung zu decentralisiren und von dem Joch eines büreau-
kratischen Mechanismus zu befreien, der um so unerträglicher war, als seine Träger
von jeher alle übrigen Beamten des Reichs an Unbildung, Korruption und
Willkürlichkeit Übertrossen hatten. Das ganze europäische Rußland wurde —
nach dem Beispiele Frankreichs— in die acht Militärbezirke von Petersburg,
Moskau, Orenburg, Kiew (südwestliche Gouvernements), Wilna (nordwest¬
liche Gouvernements), Helsingfors (Finnland), Riga (Ostseeprovinzen) und
Warschau (Königreich Polen) getheilt; an der Spitze jedes derselben steht
ein selbständiger Oberbefehlshaber mit einem eigenen Stäbe und einer selb¬
ständigen Proviant- und Fourageverwaltung; während der Kriegsminister mit der
Oberverwaltung und Aussicht betraut ist, wird die eigentliche Technik der Ver¬
waltung und Verpflegung von den Bezirksbefehlshabern gehandhabt, auf
denen selbstverständlich ein hoher Grad von Verantwortlichkeit ruht. Die zahl¬
reichen Cadettenhciuser und sonstigen militärischen Fachschulen, bis dazu Stätten
der Entsittlichung und Unwissenheit, wurden gleichfalls vollständig umgestaltet,
die Pensionate aufgehoben, die Anstalten selbst in Militärgymnasien verwandelt.
Von großer Wichtigkeit waren ferner die Reorganisation des Kosakenheers, Vie
Aushebung der Militärcolonien in Orenburg u. s. w. Was die neue Organi-


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[0498] rüheren Schwierigfeiten bei Formirung neuer Truppentheile nicht gehoben, son¬ dern nur vermindert waren, daß eine Radicalreform nothwendig sei, die die Aufhebung der Leibeigenschaft sammt der durch diese bedingten Möglichkeit häufigerer Aushebungen und kürzerer Dienstzeiten, zur Voraussetzung habe. In der That datirt die wahrhafte Reorganisation der russischen Armee erst Vom Jahre 1862. Was bis dahin geschehen, war darum aber nicht vergeblich gethan worden: Der Bruch mit den Traditionen des alten araktschejewschen Systems, das die Soldaten zu leblosen Exerciermaschinen machte, vollzog sich grade in den Jahren vor der Beendigung des Krimkrieges bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, während die Gewöhnung an das neue Exercierreglement gleichzeitige Fortschritte machte. Um die durch den orientalischen Krieg zufolge zahlreicher Rekrutirungen nahezu zerstörte Arbeitskraft der ländlichen Bevölkerung zu schonen und neu zu kräftigen und bis zum Eintritt der Bauernsreiheit und der durch diese ermöglichten Veränderung der Aushebungsmethode unnütze Opfer an das alte System zu ersparen, wurde sechs Jahre lang (1856—1862) nicht ein einziger Rekrut ausgehoben. Auf die Einzelheiten des Reformsystems, mit welchem sodann der gegen¬ wärtige russische Kriegsminister, General Miljutin, im I. 1862 hervortrat, können wir selbstverständlich nicht eingehen. Indem derselbe vor allem darauf bedacht war, die vorhandenen Bedürfnisse mit den Mitteln in das gehörige Gleich¬ gewicht und die directeste Beziehung zu setzen, das Wehrsystem den Eigen¬ thümlichkeiten des Staatsorganismus und der Nation anzupassen, begann er damit, die Militärverwaltung zu decentralisiren und von dem Joch eines büreau- kratischen Mechanismus zu befreien, der um so unerträglicher war, als seine Träger von jeher alle übrigen Beamten des Reichs an Unbildung, Korruption und Willkürlichkeit Übertrossen hatten. Das ganze europäische Rußland wurde — nach dem Beispiele Frankreichs— in die acht Militärbezirke von Petersburg, Moskau, Orenburg, Kiew (südwestliche Gouvernements), Wilna (nordwest¬ liche Gouvernements), Helsingfors (Finnland), Riga (Ostseeprovinzen) und Warschau (Königreich Polen) getheilt; an der Spitze jedes derselben steht ein selbständiger Oberbefehlshaber mit einem eigenen Stäbe und einer selb¬ ständigen Proviant- und Fourageverwaltung; während der Kriegsminister mit der Oberverwaltung und Aussicht betraut ist, wird die eigentliche Technik der Ver¬ waltung und Verpflegung von den Bezirksbefehlshabern gehandhabt, auf denen selbstverständlich ein hoher Grad von Verantwortlichkeit ruht. Die zahl¬ reichen Cadettenhciuser und sonstigen militärischen Fachschulen, bis dazu Stätten der Entsittlichung und Unwissenheit, wurden gleichfalls vollständig umgestaltet, die Pensionate aufgehoben, die Anstalten selbst in Militärgymnasien verwandelt. Von großer Wichtigkeit waren ferner die Reorganisation des Kosakenheers, Vie Aushebung der Militärcolonien in Orenburg u. s. w. Was die neue Organi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/498>, abgerufen am 15.01.2025.