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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Ministerium; dieses konnte nicht frei disponiren, so lange die Leibeigenschaft
bestand und wie ein Alp auf allen Zweigen der Administration lastete. An
ihr durfte nicht gerüttelt werden und doch war auf keinem Gebiet eine durch¬
greifende Neugestaltung möglich, die den Bestand des nur künstlich gefristeten
Statusquo nicht gefährdet hätte. Während im gesammten westlichen Europa
(England allein ausgenommen) das System der Reserven und Ersatzmannschaften
eingeführt, durch die Möglichkeit eines verminderten Präsenzstandes zu Friedens^
zeiten eine Ersparniß der Ausgaben für das Kriegswesen herbeigeführt worden war,
welche die finanziellen Kräfte für Kriegszeiten schonte, ohne die disponiblen Streit¬
kräfte zu vermindern, war Nußland von der Adoption dieses Systems, welches eine neue
Aerq>für die Entwickelung der Kriegskunst eröffnete, ausgeschlossen, so lange die Leib¬
eigenschaft bestand. Nach russischem Gesetz erwarb jeder Leibeigene, der in das Heer
trat, für sich und seine Kinder die Freiheit, von der er aber erst vollen Gebrauch
machen konnte, wenn er beurlaubt oder verabschiedet wurde. Diese altrussische
Einrichtung bedingte die endlose Länge der auf fünfundzwanzig Jahre ange¬
setzten Dienstzeit mit Nothwendigkeit; es war ohne Gefahr für die bestehende
Ordnung der Dinge nicht möglich, eine größere Menge von Leibeigenen
durch immerwährende Aushebungen zur Armee und resp, darauf folgende Ent¬
lassungen zu emancipiren -- auf das System der Reserven mußte verzichtet
werden, weil die Reservisten freie Leute gewesen wären. Nur Angesichts drin¬
gender Gefahren durfte die Regierung es wagen, in kurzen Pausen neue Rekruten¬
aushebungen vorzunehmen-- und doch waren dieselben bei dem schlechten Zustande
der durch Jahrzehnte langen Dienst verkommenen älteren Soldaten im Kriegsfall
unumgänglich nothwendig. Wollte man aber diese neu ausgehobenen, völlig unge¬
schulten Massen verwenden, so bedürfte es der Formation neuer Truppentheile, für
welche es wiederum an Cadres, an Offizieren und Unteroffizieren, ja selbst an der Aus¬
rüstung fehlte; ohne ungeheure Opfer an Zeit, Geld und Kräften, ja ohne Erschütte¬
rung des Bestandes der übrigen Armee, war die Formirung der neuen Tmppeniheile
nicht möglich. An eine Verwendung gegen den Feind war zunächst noch nicht
zu denken, man mußte sich begnügen, diese neugeschaffenen Abtheilungen, die
Millionen gekostet hatten, ehe sie überhaupt zu irgendetwas gebraucht werden
konnten, im Garnisondienst zu verwenden und hier für ihre eigentliche Be¬
stimmung vorzubereiten. Während der Regierung des Kaisers Nikolaus machte
man vergebliche Versuche zur Abhilfe dieses schreienden Mißstandes, selbstver¬
ständlich ohne an der eigentlichen Ursache desselben, der Unfreiheit des russischen
Bauernstandes zu rütteln. Der Kaiser selbst schuf das Jnstiiut der "auf un¬
bestimmten Urlaub" Entlassener und glaubte durch dasselbe dem übergroßen
Präsenzstande und dem Mangel an wirklichen Reserven wenigstens palliativisch
abhelfen zu können -- aber es erwies sich bald, daß die Fachleute, welche
dasselbe widerrathen hatten, im Recht gewesen waren. Einmal war es, wie


Ministerium; dieses konnte nicht frei disponiren, so lange die Leibeigenschaft
bestand und wie ein Alp auf allen Zweigen der Administration lastete. An
ihr durfte nicht gerüttelt werden und doch war auf keinem Gebiet eine durch¬
greifende Neugestaltung möglich, die den Bestand des nur künstlich gefristeten
Statusquo nicht gefährdet hätte. Während im gesammten westlichen Europa
(England allein ausgenommen) das System der Reserven und Ersatzmannschaften
eingeführt, durch die Möglichkeit eines verminderten Präsenzstandes zu Friedens^
zeiten eine Ersparniß der Ausgaben für das Kriegswesen herbeigeführt worden war,
welche die finanziellen Kräfte für Kriegszeiten schonte, ohne die disponiblen Streit¬
kräfte zu vermindern, war Nußland von der Adoption dieses Systems, welches eine neue
Aerq>für die Entwickelung der Kriegskunst eröffnete, ausgeschlossen, so lange die Leib¬
eigenschaft bestand. Nach russischem Gesetz erwarb jeder Leibeigene, der in das Heer
trat, für sich und seine Kinder die Freiheit, von der er aber erst vollen Gebrauch
machen konnte, wenn er beurlaubt oder verabschiedet wurde. Diese altrussische
Einrichtung bedingte die endlose Länge der auf fünfundzwanzig Jahre ange¬
setzten Dienstzeit mit Nothwendigkeit; es war ohne Gefahr für die bestehende
Ordnung der Dinge nicht möglich, eine größere Menge von Leibeigenen
durch immerwährende Aushebungen zur Armee und resp, darauf folgende Ent¬
lassungen zu emancipiren — auf das System der Reserven mußte verzichtet
werden, weil die Reservisten freie Leute gewesen wären. Nur Angesichts drin¬
gender Gefahren durfte die Regierung es wagen, in kurzen Pausen neue Rekruten¬
aushebungen vorzunehmen— und doch waren dieselben bei dem schlechten Zustande
der durch Jahrzehnte langen Dienst verkommenen älteren Soldaten im Kriegsfall
unumgänglich nothwendig. Wollte man aber diese neu ausgehobenen, völlig unge¬
schulten Massen verwenden, so bedürfte es der Formation neuer Truppentheile, für
welche es wiederum an Cadres, an Offizieren und Unteroffizieren, ja selbst an der Aus¬
rüstung fehlte; ohne ungeheure Opfer an Zeit, Geld und Kräften, ja ohne Erschütte¬
rung des Bestandes der übrigen Armee, war die Formirung der neuen Tmppeniheile
nicht möglich. An eine Verwendung gegen den Feind war zunächst noch nicht
zu denken, man mußte sich begnügen, diese neugeschaffenen Abtheilungen, die
Millionen gekostet hatten, ehe sie überhaupt zu irgendetwas gebraucht werden
konnten, im Garnisondienst zu verwenden und hier für ihre eigentliche Be¬
stimmung vorzubereiten. Während der Regierung des Kaisers Nikolaus machte
man vergebliche Versuche zur Abhilfe dieses schreienden Mißstandes, selbstver¬
ständlich ohne an der eigentlichen Ursache desselben, der Unfreiheit des russischen
Bauernstandes zu rütteln. Der Kaiser selbst schuf das Jnstiiut der „auf un¬
bestimmten Urlaub" Entlassener und glaubte durch dasselbe dem übergroßen
Präsenzstande und dem Mangel an wirklichen Reserven wenigstens palliativisch
abhelfen zu können — aber es erwies sich bald, daß die Fachleute, welche
dasselbe widerrathen hatten, im Recht gewesen waren. Einmal war es, wie


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[0495] Ministerium; dieses konnte nicht frei disponiren, so lange die Leibeigenschaft bestand und wie ein Alp auf allen Zweigen der Administration lastete. An ihr durfte nicht gerüttelt werden und doch war auf keinem Gebiet eine durch¬ greifende Neugestaltung möglich, die den Bestand des nur künstlich gefristeten Statusquo nicht gefährdet hätte. Während im gesammten westlichen Europa (England allein ausgenommen) das System der Reserven und Ersatzmannschaften eingeführt, durch die Möglichkeit eines verminderten Präsenzstandes zu Friedens^ zeiten eine Ersparniß der Ausgaben für das Kriegswesen herbeigeführt worden war, welche die finanziellen Kräfte für Kriegszeiten schonte, ohne die disponiblen Streit¬ kräfte zu vermindern, war Nußland von der Adoption dieses Systems, welches eine neue Aerq>für die Entwickelung der Kriegskunst eröffnete, ausgeschlossen, so lange die Leib¬ eigenschaft bestand. Nach russischem Gesetz erwarb jeder Leibeigene, der in das Heer trat, für sich und seine Kinder die Freiheit, von der er aber erst vollen Gebrauch machen konnte, wenn er beurlaubt oder verabschiedet wurde. Diese altrussische Einrichtung bedingte die endlose Länge der auf fünfundzwanzig Jahre ange¬ setzten Dienstzeit mit Nothwendigkeit; es war ohne Gefahr für die bestehende Ordnung der Dinge nicht möglich, eine größere Menge von Leibeigenen durch immerwährende Aushebungen zur Armee und resp, darauf folgende Ent¬ lassungen zu emancipiren — auf das System der Reserven mußte verzichtet werden, weil die Reservisten freie Leute gewesen wären. Nur Angesichts drin¬ gender Gefahren durfte die Regierung es wagen, in kurzen Pausen neue Rekruten¬ aushebungen vorzunehmen— und doch waren dieselben bei dem schlechten Zustande der durch Jahrzehnte langen Dienst verkommenen älteren Soldaten im Kriegsfall unumgänglich nothwendig. Wollte man aber diese neu ausgehobenen, völlig unge¬ schulten Massen verwenden, so bedürfte es der Formation neuer Truppentheile, für welche es wiederum an Cadres, an Offizieren und Unteroffizieren, ja selbst an der Aus¬ rüstung fehlte; ohne ungeheure Opfer an Zeit, Geld und Kräften, ja ohne Erschütte¬ rung des Bestandes der übrigen Armee, war die Formirung der neuen Tmppeniheile nicht möglich. An eine Verwendung gegen den Feind war zunächst noch nicht zu denken, man mußte sich begnügen, diese neugeschaffenen Abtheilungen, die Millionen gekostet hatten, ehe sie überhaupt zu irgendetwas gebraucht werden konnten, im Garnisondienst zu verwenden und hier für ihre eigentliche Be¬ stimmung vorzubereiten. Während der Regierung des Kaisers Nikolaus machte man vergebliche Versuche zur Abhilfe dieses schreienden Mißstandes, selbstver¬ ständlich ohne an der eigentlichen Ursache desselben, der Unfreiheit des russischen Bauernstandes zu rütteln. Der Kaiser selbst schuf das Jnstiiut der „auf un¬ bestimmten Urlaub" Entlassener und glaubte durch dasselbe dem übergroßen Präsenzstande und dem Mangel an wirklichen Reserven wenigstens palliativisch abhelfen zu können — aber es erwies sich bald, daß die Fachleute, welche dasselbe widerrathen hatten, im Recht gewesen waren. Einmal war es, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/495>, abgerufen am 15.01.2025.