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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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lion Soldaten unter den Waffen d. h. auf dem Papier stand, war kaum die
Hälfte denselben disponibel; die fünfundzwanzigjährige Dienstzeit bedeutete für
jeden, der zum Soldaten ausgehoben wurde, einen Abschied auf Nimmerwieder-
sehn und da auch die Soldatensinder verurteilt waren, zeitlebens das Gewerbe
ihrer Väter zu betreiben, war es nicht zu viel, wenn behauptet wurde, das
Heer verschlinge die besten productiven Kräfte des Staats, nicht um die Wehr¬
kraft, sondern um die Ausgaben desselben in entsprechender Weise zu steigern.
Die Schwerfälligkeit dieser Armee, deren eine Hälfte wenig mehr als eine über¬
flüssige Lose war, nahm zufolge des Heranwachsens immer neuer Generationen
von Soldatenkindcrn beständig zu und reducirte die schlagfertigen und dispo¬
niblen Kräfte auf ein Minimum: von den 2,000 000 Soldaten, welche im
Anfang der fünfziger Jahre nach den Listen des Kriegsministeriums da waren,
konnten zur Zeit der Entscheidung in der Krim kaum 100,000 rechtzeitig auf
den Kampfplatz geführt werden.

Aber nicht nur bezüglich der Organisation des Ganzen, auch in Beziehung
auf Behandlung. Ausrüstung und Verpflegung des einzelnen Soldaten bestand
das damalige System aus einer Kette von Mißgriffen. Die Grausamkeit des
Militärstrafgesetzbuchs, das fast unbeschränkte Züchtigungsrecht Der Compagnie-
und Regimentschefs, eine Dressur, welche sich nur auf Aeußerlichkeiten beschränkte,
ließen keinen eigentlich kriegerischen Sinn, keine Freude am Soldatenhandwerk
aufkommen, das vielmehr jedem, der zu demselben gezwungen wurde, für eine
Strafanstalt galt; zur Demoralisation der Truppen mußte es wesentlich bei¬
tragen, daß in der That zahlreiche jüngere Verbrecher der gemeinsten Art jähr¬
lich zum Militärdienst verurtheilt wurden. Da die Verpflegungs- und Ver-
waltungsgeschäfte sämmtlich in der Hand des Kriegsministeriums concentrirt
waren, war eine gewissenhafte Beaufsichtigung und Controle der Einzelheiten
derselben unmöglich. Ein Bericht des militärisch-medicinischen Departements
vom Jahre 1861 über die Gründe der hohen Sterblichkeitsziffer in der Armee
bezeichnet fast sämmtliche damalige Einrichtungen als in ihrer Wirkung "mör¬
derische"; die Kleidung sei unzweckmäßig, weil im Sommer zu schwer, im Winter
zu leicht, die Nahrung (abgesehen von der herkömmlichen Verfälschung und
Unterschlagung des Rohmaterials) schon wegen der Sanitätswidrigkeit der Ge"
säße, in denen sie bereitet worden, ungesund, die Ammunition, welche der Ein¬
zelne schleppen müsse, zu schwer und unzweckmäßig über den Körper vertheilt,
endlich der Wachtdienst s^mtätswidrig. weil ohne Berücksichtigung der klimati-
schen und lokalen Verschiedenheiten organisirt. Das Hauptübel bestand, von
militärischem Gesichtspunkte aus betrachtet, aber doch in der Unzweckmäßigkeit
und Schwerfälligkeit der Zusammensetzung der Armee und in der übertriebenen
Länge der Dienstzeit. So elend und kläglich auch die Militärverwaltung jener
Zeit war, die Schuld derselben lastete nur zum geringeren Theil aus dem Kriegs-


lion Soldaten unter den Waffen d. h. auf dem Papier stand, war kaum die
Hälfte denselben disponibel; die fünfundzwanzigjährige Dienstzeit bedeutete für
jeden, der zum Soldaten ausgehoben wurde, einen Abschied auf Nimmerwieder-
sehn und da auch die Soldatensinder verurteilt waren, zeitlebens das Gewerbe
ihrer Väter zu betreiben, war es nicht zu viel, wenn behauptet wurde, das
Heer verschlinge die besten productiven Kräfte des Staats, nicht um die Wehr¬
kraft, sondern um die Ausgaben desselben in entsprechender Weise zu steigern.
Die Schwerfälligkeit dieser Armee, deren eine Hälfte wenig mehr als eine über¬
flüssige Lose war, nahm zufolge des Heranwachsens immer neuer Generationen
von Soldatenkindcrn beständig zu und reducirte die schlagfertigen und dispo¬
niblen Kräfte auf ein Minimum: von den 2,000 000 Soldaten, welche im
Anfang der fünfziger Jahre nach den Listen des Kriegsministeriums da waren,
konnten zur Zeit der Entscheidung in der Krim kaum 100,000 rechtzeitig auf
den Kampfplatz geführt werden.

Aber nicht nur bezüglich der Organisation des Ganzen, auch in Beziehung
auf Behandlung. Ausrüstung und Verpflegung des einzelnen Soldaten bestand
das damalige System aus einer Kette von Mißgriffen. Die Grausamkeit des
Militärstrafgesetzbuchs, das fast unbeschränkte Züchtigungsrecht Der Compagnie-
und Regimentschefs, eine Dressur, welche sich nur auf Aeußerlichkeiten beschränkte,
ließen keinen eigentlich kriegerischen Sinn, keine Freude am Soldatenhandwerk
aufkommen, das vielmehr jedem, der zu demselben gezwungen wurde, für eine
Strafanstalt galt; zur Demoralisation der Truppen mußte es wesentlich bei¬
tragen, daß in der That zahlreiche jüngere Verbrecher der gemeinsten Art jähr¬
lich zum Militärdienst verurtheilt wurden. Da die Verpflegungs- und Ver-
waltungsgeschäfte sämmtlich in der Hand des Kriegsministeriums concentrirt
waren, war eine gewissenhafte Beaufsichtigung und Controle der Einzelheiten
derselben unmöglich. Ein Bericht des militärisch-medicinischen Departements
vom Jahre 1861 über die Gründe der hohen Sterblichkeitsziffer in der Armee
bezeichnet fast sämmtliche damalige Einrichtungen als in ihrer Wirkung „mör¬
derische"; die Kleidung sei unzweckmäßig, weil im Sommer zu schwer, im Winter
zu leicht, die Nahrung (abgesehen von der herkömmlichen Verfälschung und
Unterschlagung des Rohmaterials) schon wegen der Sanitätswidrigkeit der Ge«
säße, in denen sie bereitet worden, ungesund, die Ammunition, welche der Ein¬
zelne schleppen müsse, zu schwer und unzweckmäßig über den Körper vertheilt,
endlich der Wachtdienst s^mtätswidrig. weil ohne Berücksichtigung der klimati-
schen und lokalen Verschiedenheiten organisirt. Das Hauptübel bestand, von
militärischem Gesichtspunkte aus betrachtet, aber doch in der Unzweckmäßigkeit
und Schwerfälligkeit der Zusammensetzung der Armee und in der übertriebenen
Länge der Dienstzeit. So elend und kläglich auch die Militärverwaltung jener
Zeit war, die Schuld derselben lastete nur zum geringeren Theil aus dem Kriegs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/494>, abgerufen am 15.01.2025.