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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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trachtnngen über die Lage Deutschlands ausgefüllt; es ist aber nicht sowohl
das neu ausgegebene Gelbbuch über die luxemburger Angelegenheit, als das
perfide Alarmgeschrei der "Situation" und des "Monde", mit welchem man die
öffentliche Aufmerksamkeit zu beschäftigen sucht. Während sich die wiener Blätter
trotz aller Abneigung gegen das vergrößerte Preußen von dem Treiben der in
Hietzing versammelten hannoverschen Emigration abwenden und das Loos des
Welfenkönigs als verdientes und unabänderliches ansehen, finden der ohnmäch¬
tige Grimm und die intriguante Verlogenheit der höfischen Particularistenvartei
in den genannten pariser Journalen bereitwillige Organe. Wenn dieser Mohr
seine Pflicht gethan, wird man auch ihm die Thür zu weisen wissen, denn daß
der norddeutsche Bund mit Hebeln dieser Art nicht aus den Angeln gehoben
werden wird, weiß man in Paris ebensogut wie in Wien. In Illusionen
über diesen Punkt zu leben, ist das Privilegium des hannoverschen Exkönigs
und jener würdigen deutschen Collegen des Lohnschreibers Halländer, welche
die Sprache der "Situation" in das Sächsische oder Schwäbische zu übersetzen und
das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden bestrebt sind, sich heute in wel-
fischen Legitimismus, morgen in demokratischer Großsprecherei ergebend.

In England hat die d'israelische Reformbill so ausschließlich alle Inter¬
essen in Anspruch genommen, daß die Fragen der großen europäischen Politik
eine blos episodische Behandlung in den beiden Häusern des Parlaments er¬
fuhren. Fehlt den Verhandlungen über das neue Wahlgesetz auch das drama¬
tische Leben, das die greysche Reformbill in den bewegten Tagen, welche der
Julirevolution folgten, zum bedeutendsten Ereigniß der Zeit machten, so bieten
die bezüglichen Verhandlungen (die den Sieg der Tories täglich wahrscheinlicher
machen) doch mannigfache neue Gesichtspunkte zum Studium der parlamenta¬
rischen Zeitgeschichte. Die Ueberlebtheit der alten Partcigliedcrung, die in An¬
laß des laingschen Antrags wieder einmal deutlich hervortrat, und die Be¬
deutungslosigkeit, zu welcher das Haus der Lords herabgesunken, stellen es
außer Zweifel, daß den englischen Institutionen eine Krisis bevorsteht, deren
wachsende Dimensionen mit dem Aufschub der Reform, den Palmerston und
später die Abdullamiten verschuldeten, in verhängnißvollen Zusammenhang
stehen. Während die Haltung der Peerschaft noch vor 23 Jahren von entscheiden¬
den Einfluß auf das Geschick des grey-russischen Reformwerks war, die be¬
züglichen Debatten im Oberhause von ganz England mit athemloser Theilnahme
verfolgt wurden, ist die Schlaffheit und Impotenz dieses Körpers heute der
Gegenstand stets erneuerter Klagen der englischen Presse beider Parteien. Daß
auch in dieser ersten Aristokratie der Welt "der Wille zum Leben" schwächer zu
werden beginnt, daß sich auch hier die Symptome für die Theilnahme des dritten
Standes an demRegiment mehren, dürfte die Aufmerksamkeit des Continents im
höheren Maße verdienen, als die ^- besonders in Preußen übel vermerkte und in der


trachtnngen über die Lage Deutschlands ausgefüllt; es ist aber nicht sowohl
das neu ausgegebene Gelbbuch über die luxemburger Angelegenheit, als das
perfide Alarmgeschrei der „Situation" und des „Monde", mit welchem man die
öffentliche Aufmerksamkeit zu beschäftigen sucht. Während sich die wiener Blätter
trotz aller Abneigung gegen das vergrößerte Preußen von dem Treiben der in
Hietzing versammelten hannoverschen Emigration abwenden und das Loos des
Welfenkönigs als verdientes und unabänderliches ansehen, finden der ohnmäch¬
tige Grimm und die intriguante Verlogenheit der höfischen Particularistenvartei
in den genannten pariser Journalen bereitwillige Organe. Wenn dieser Mohr
seine Pflicht gethan, wird man auch ihm die Thür zu weisen wissen, denn daß
der norddeutsche Bund mit Hebeln dieser Art nicht aus den Angeln gehoben
werden wird, weiß man in Paris ebensogut wie in Wien. In Illusionen
über diesen Punkt zu leben, ist das Privilegium des hannoverschen Exkönigs
und jener würdigen deutschen Collegen des Lohnschreibers Halländer, welche
die Sprache der „Situation" in das Sächsische oder Schwäbische zu übersetzen und
das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden bestrebt sind, sich heute in wel-
fischen Legitimismus, morgen in demokratischer Großsprecherei ergebend.

In England hat die d'israelische Reformbill so ausschließlich alle Inter¬
essen in Anspruch genommen, daß die Fragen der großen europäischen Politik
eine blos episodische Behandlung in den beiden Häusern des Parlaments er¬
fuhren. Fehlt den Verhandlungen über das neue Wahlgesetz auch das drama¬
tische Leben, das die greysche Reformbill in den bewegten Tagen, welche der
Julirevolution folgten, zum bedeutendsten Ereigniß der Zeit machten, so bieten
die bezüglichen Verhandlungen (die den Sieg der Tories täglich wahrscheinlicher
machen) doch mannigfache neue Gesichtspunkte zum Studium der parlamenta¬
rischen Zeitgeschichte. Die Ueberlebtheit der alten Partcigliedcrung, die in An¬
laß des laingschen Antrags wieder einmal deutlich hervortrat, und die Be¬
deutungslosigkeit, zu welcher das Haus der Lords herabgesunken, stellen es
außer Zweifel, daß den englischen Institutionen eine Krisis bevorsteht, deren
wachsende Dimensionen mit dem Aufschub der Reform, den Palmerston und
später die Abdullamiten verschuldeten, in verhängnißvollen Zusammenhang
stehen. Während die Haltung der Peerschaft noch vor 23 Jahren von entscheiden¬
den Einfluß auf das Geschick des grey-russischen Reformwerks war, die be¬
züglichen Debatten im Oberhause von ganz England mit athemloser Theilnahme
verfolgt wurden, ist die Schlaffheit und Impotenz dieses Körpers heute der
Gegenstand stets erneuerter Klagen der englischen Presse beider Parteien. Daß
auch in dieser ersten Aristokratie der Welt „der Wille zum Leben" schwächer zu
werden beginnt, daß sich auch hier die Symptome für die Theilnahme des dritten
Standes an demRegiment mehren, dürfte die Aufmerksamkeit des Continents im
höheren Maße verdienen, als die ^- besonders in Preußen übel vermerkte und in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/46>, abgerufen am 15.01.2025.