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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Griechen gegenüber eine ähnliche Stellung ein, wie sie die Westmächte angesichts
des polnischen Aufstandes von 1863 behauptet d. h. sie unterstütze durch ihr
moralisches Gewicht einen Aufstand, der, wenn ihm nicht praktische Hilfe zu
Theil werde, zum Verderben der Aufständischen weiden müsse. Die orientalische
Politik der Westmächte ist Cabinetspolitik im eigentlichsten Sinne des Worts,
-- sie findet höchstens in den materiellen Interessen ihrer Völker eine Unter¬
stützung, wird der lebendigen Theilnahme derselben aber stets durch ihre kühle,
berechnete Natur entrückt bleiben, während die Hauptstärke Rußlands im Orient
auf einer Tradition ruht, deren religiöse Weihe bei den Slawen Rumeliens
dieselbe Geltung genießt, wie bei den Großrussen Moskaus.

Die nationale Bedeutung der orientalischen Frage für Nußland und die
Russen wird ein dauerndes Zusammengehen des Petersburger Cabinets mit den
Regierungen von Frankreich, England und Oestreich niemals möglich machen,
die Voraussetzungen, von denen hüben und drüben ausgegangen wird, sind
eben grundverschiedene. Für das russische Volk spielt die orientalische Frage
so ziemlich dieselbe Rolle, wie die Nhei"g>enze für die Franzosen; so himmel¬
weit die Ziele und Tendenzen der verschiedenen Parteien auch auseinander-
gehen, in diesem Punkte sind sie einig -- mag man principiell alle Gedanken
an Erweiterung der Ncichsgrenzen und auswärtige Kriege verworfen haben,
es braucht nur das eine verhängnißvolle Wörilein gesprochen zu werden, um
alle mühsam aufgebauten Systeme über den Haufen zu werfen und einen jähen
Umschlag der Gemüther zu bewirke". Selbstverständlich handelt es sich dabei
um kein bestimmtes Programm und wenn Petersburger und moskauer Jour¬
nale von Zeit zu Zeit Versichern, an eine Einverleibung des Gebiets der Pfordte
in die russischen Grenzen werde in Rußland nirgend gedacht, so ist das in ge¬
wissem Sinne wahr: klare Vorstellungen von dem, was sie im Orient wollen,
haben die Wenigsten, aber grade darum sind die Massen zu jeder Action bereit,
welche das Banner mit dem zweiköpfigen Adler auf die Thürme der Aga
Sophia zu pflanzen und das griechische Kreuz an die Stelle des Halbmondes
zu setzen, Aussicht hat. -- Bewegen die Dinge sich in den Bahnen weiter,
in welche sie einmal gelenkt sind, so sind Rußlands Chancen im Orient gün¬
stiger und verheißungsvoller, als die irgendeines andern europäischen Staats;
es handelt sich um nichts weiter als um den ungehemmten Fortgang einer
natürlichen Entwickelung, welche die reife Frucht dem Oberhaupt des größten
griechisch-orthodoxen Stammes in den Schoß wirft.

Auch die officiösen russischen Journale haben die Kaiftrreise nach Paris
mit einer neuen Phase der Candia betreffenden Verhandlungen in Beziehung
gesetzt, der Erfolg hat aber ihre Erwartungen nicht gerechtfertigt. Soweit sich
nach Zeitungsnachrichten urtheilen läßt, sind die pariser Konferenzen über diese
Frage (wenn anders solche überhaupt stattgefunden haben) resultatlos geblieben.


Griechen gegenüber eine ähnliche Stellung ein, wie sie die Westmächte angesichts
des polnischen Aufstandes von 1863 behauptet d. h. sie unterstütze durch ihr
moralisches Gewicht einen Aufstand, der, wenn ihm nicht praktische Hilfe zu
Theil werde, zum Verderben der Aufständischen weiden müsse. Die orientalische
Politik der Westmächte ist Cabinetspolitik im eigentlichsten Sinne des Worts,
— sie findet höchstens in den materiellen Interessen ihrer Völker eine Unter¬
stützung, wird der lebendigen Theilnahme derselben aber stets durch ihre kühle,
berechnete Natur entrückt bleiben, während die Hauptstärke Rußlands im Orient
auf einer Tradition ruht, deren religiöse Weihe bei den Slawen Rumeliens
dieselbe Geltung genießt, wie bei den Großrussen Moskaus.

Die nationale Bedeutung der orientalischen Frage für Nußland und die
Russen wird ein dauerndes Zusammengehen des Petersburger Cabinets mit den
Regierungen von Frankreich, England und Oestreich niemals möglich machen,
die Voraussetzungen, von denen hüben und drüben ausgegangen wird, sind
eben grundverschiedene. Für das russische Volk spielt die orientalische Frage
so ziemlich dieselbe Rolle, wie die Nhei»g>enze für die Franzosen; so himmel¬
weit die Ziele und Tendenzen der verschiedenen Parteien auch auseinander-
gehen, in diesem Punkte sind sie einig — mag man principiell alle Gedanken
an Erweiterung der Ncichsgrenzen und auswärtige Kriege verworfen haben,
es braucht nur das eine verhängnißvolle Wörilein gesprochen zu werden, um
alle mühsam aufgebauten Systeme über den Haufen zu werfen und einen jähen
Umschlag der Gemüther zu bewirke». Selbstverständlich handelt es sich dabei
um kein bestimmtes Programm und wenn Petersburger und moskauer Jour¬
nale von Zeit zu Zeit Versichern, an eine Einverleibung des Gebiets der Pfordte
in die russischen Grenzen werde in Rußland nirgend gedacht, so ist das in ge¬
wissem Sinne wahr: klare Vorstellungen von dem, was sie im Orient wollen,
haben die Wenigsten, aber grade darum sind die Massen zu jeder Action bereit,
welche das Banner mit dem zweiköpfigen Adler auf die Thürme der Aga
Sophia zu pflanzen und das griechische Kreuz an die Stelle des Halbmondes
zu setzen, Aussicht hat. — Bewegen die Dinge sich in den Bahnen weiter,
in welche sie einmal gelenkt sind, so sind Rußlands Chancen im Orient gün¬
stiger und verheißungsvoller, als die irgendeines andern europäischen Staats;
es handelt sich um nichts weiter als um den ungehemmten Fortgang einer
natürlichen Entwickelung, welche die reife Frucht dem Oberhaupt des größten
griechisch-orthodoxen Stammes in den Schoß wirft.

Auch die officiösen russischen Journale haben die Kaiftrreise nach Paris
mit einer neuen Phase der Candia betreffenden Verhandlungen in Beziehung
gesetzt, der Erfolg hat aber ihre Erwartungen nicht gerechtfertigt. Soweit sich
nach Zeitungsnachrichten urtheilen läßt, sind die pariser Konferenzen über diese
Frage (wenn anders solche überhaupt stattgefunden haben) resultatlos geblieben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/44>, abgerufen am 15.01.2025.