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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Eigenthums festhaltenden polnischen Herren gemeldet und wenige Tage nach
Erlaß des (aus der pariser Reise des Kaisers zu Wirballen unterzeichneten)
Amnestieukases veröffentlichte der warschauer Staatsanzeiger zwei kaiserliche De-
crete, durch welche die katholische Eparchie von Podlachien und das polnische
Unterrichtsministerium aufgehoben wurden, letzteres um dem russischen Mmi-
stenum der Volksaufklärung untergeordnet zu werden. -- R>egers Rede ist
wochenlang der Gegenstand eifriger Widerlegungen und Proteste der russischen
Journalistik gewesen, deren Organe sich im Uebrigen in Höflichkeiten gegen die
Brüder und Gäste überboten habe". Der vielerfahrene Ezechenführer hat es
indessen verstanden, die Schatten, welche seine polensrcundlichen Worte auf die
Festesfreude geworfen, einige Tage später zu verscheuchen, indem er die Auf¬
merksamkeit seiner Zuhörer auf eine Angelegenheit lenkte, welche -- nach slawischer
Anschauung -- gleich der polnischen ein slawisches Internum zu werden bestimmt
ist -- die orientalische Frage: die russischen Brüder wurden von dem czechischen
Redner in begeisterten Worten zur Befreiung der unter türkischem Joch schmach¬
tenden Slawenstämme aufgefordert; schon früher war in demselben Sinne von einem
serbischen Studenten aus Wien unter allgemeiner Zustimmung gesprochen worden.

In den Augen seines Volks hat Rußland doppelte Ansprüche an die Erb¬
schaft der am Bosporus belegenen Länder: einmal weiß man sich den in der
Türkei lebenden slawischen Stämmen durch Bande des Bluts und der kirchlichen
Gemeinschaft verbunden und zweitens spielt das alte Vyzanz in der russischen
Bolkstradilion eine ähnliche Rolle, wie sie Rom in den Augen des deutschen
Mittelalters einnahm. Das oströmische Reich war die Wiege der kirchlichen
Cultur, welche vor neun Jahrhunderten zu den Rußland bewohnenden Slawen
drang und der diese die Grundlagen ihrer Bildung danken; die Slawenzüge
nach Byzanz sind für die russischen "iomantiker von demselben poetischen Zauber
umgeben, den die Römerfahrten in den Augen unserer Vorältern hatten, und
die Fiction von der Fortsetzung des oströmischen Reichs in dem russischen ist in
dem russischen Volksglauben ebenso fest begründet, wie seiner Zeit die deutsche
Sage von dem im heiligen römischen Reich teutscher Nation wiedergeborenen
Imperium ronn-nun. Rußlands Haltung in der orientalischen Frage ist von
diesen Votksanschauungen niemals ganz unabhängig gewesen, und wenn das
Petersburger Cabinet zur Zeit eine reservirte Haltung einnimmt und in Stambul
gemeinsam mit den Vertretern Oestreichs und der Westmächte vorgeht, so geschieht
das immer aus Unkosten der Popularität im eignen Lande, denn die eigentlich
treibende Kraft ist nicht der Ehrgeiz der Negierung, sondern die durch eine uralte
Tradition geheiligte öffentliche Meinung. Konnte es trotz der Strenge des
russischen Preßgesetzes doch noch vor einigen Wochen geschehen, daß ein Peters¬
burger Journal (der von Krajcwski, dem russischen Girardin, herausgegebene
"Golos") der Negierung vorwarf, sie nehme den auf Candia kämpfenden


Grenzboten III. 18L7. 6

Eigenthums festhaltenden polnischen Herren gemeldet und wenige Tage nach
Erlaß des (aus der pariser Reise des Kaisers zu Wirballen unterzeichneten)
Amnestieukases veröffentlichte der warschauer Staatsanzeiger zwei kaiserliche De-
crete, durch welche die katholische Eparchie von Podlachien und das polnische
Unterrichtsministerium aufgehoben wurden, letzteres um dem russischen Mmi-
stenum der Volksaufklärung untergeordnet zu werden. — R>egers Rede ist
wochenlang der Gegenstand eifriger Widerlegungen und Proteste der russischen
Journalistik gewesen, deren Organe sich im Uebrigen in Höflichkeiten gegen die
Brüder und Gäste überboten habe». Der vielerfahrene Ezechenführer hat es
indessen verstanden, die Schatten, welche seine polensrcundlichen Worte auf die
Festesfreude geworfen, einige Tage später zu verscheuchen, indem er die Auf¬
merksamkeit seiner Zuhörer auf eine Angelegenheit lenkte, welche — nach slawischer
Anschauung — gleich der polnischen ein slawisches Internum zu werden bestimmt
ist — die orientalische Frage: die russischen Brüder wurden von dem czechischen
Redner in begeisterten Worten zur Befreiung der unter türkischem Joch schmach¬
tenden Slawenstämme aufgefordert; schon früher war in demselben Sinne von einem
serbischen Studenten aus Wien unter allgemeiner Zustimmung gesprochen worden.

In den Augen seines Volks hat Rußland doppelte Ansprüche an die Erb¬
schaft der am Bosporus belegenen Länder: einmal weiß man sich den in der
Türkei lebenden slawischen Stämmen durch Bande des Bluts und der kirchlichen
Gemeinschaft verbunden und zweitens spielt das alte Vyzanz in der russischen
Bolkstradilion eine ähnliche Rolle, wie sie Rom in den Augen des deutschen
Mittelalters einnahm. Das oströmische Reich war die Wiege der kirchlichen
Cultur, welche vor neun Jahrhunderten zu den Rußland bewohnenden Slawen
drang und der diese die Grundlagen ihrer Bildung danken; die Slawenzüge
nach Byzanz sind für die russischen »iomantiker von demselben poetischen Zauber
umgeben, den die Römerfahrten in den Augen unserer Vorältern hatten, und
die Fiction von der Fortsetzung des oströmischen Reichs in dem russischen ist in
dem russischen Volksglauben ebenso fest begründet, wie seiner Zeit die deutsche
Sage von dem im heiligen römischen Reich teutscher Nation wiedergeborenen
Imperium ronn-nun. Rußlands Haltung in der orientalischen Frage ist von
diesen Votksanschauungen niemals ganz unabhängig gewesen, und wenn das
Petersburger Cabinet zur Zeit eine reservirte Haltung einnimmt und in Stambul
gemeinsam mit den Vertretern Oestreichs und der Westmächte vorgeht, so geschieht
das immer aus Unkosten der Popularität im eignen Lande, denn die eigentlich
treibende Kraft ist nicht der Ehrgeiz der Negierung, sondern die durch eine uralte
Tradition geheiligte öffentliche Meinung. Konnte es trotz der Strenge des
russischen Preßgesetzes doch noch vor einigen Wochen geschehen, daß ein Peters¬
burger Journal (der von Krajcwski, dem russischen Girardin, herausgegebene
„Golos") der Negierung vorwarf, sie nehme den auf Candia kämpfenden


Grenzboten III. 18L7. 6
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/43>, abgerufen am 15.01.2025.