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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Eine antike Dorfgeschichte.

Bei einer Ueberschau der weitschichtigen Ueberreste der antiken Literatur
finden wir eine Gattung verhältnismäßig sehr schwach vertreten, welche in der
modernen Literatur einen sehr breiten Raum einnimmt, die eigentlichen Unter¬
haltungsschriften, namentlich Roman und Novelle. Was von antiken Ro¬
manen auf uns gekommen ist, gehört fast ausnahmslos ganz später Zeit an
und ist allerdings nicht geeignet, uns eine entsprechende Vorstellung von dem
M geben, was auf diesem Gebiet geleistet worden ist, wenn auch in manchen
Zügen die ältere Tradition noch gewahrt erscheint. Denn daß die Griechen, welche
so gern erzählten und so gern dem Erzähler zuhörten, auch die erzählende Li¬
teratur nicht vernachlässigt haben, ist unbezweifelt, und von den Schiffermärchen
der Odyssee an gab es immer Erzählungen, in denen die Berichterstatter Wahr¬
heit und Dichtung nach Lust und Behagen zur Unterhaltung des Lesers misch¬
ten. Daß diese Elemente vielfach in die eigentlich historische und philosophische
Literatur eindrangen und mancherlei ernsthaft gemeinten Tendenzen dienten,
hat freilich seine bedenkliclien Seiten und bereitet der forschenden Wissenschaft
nicht selten erhebliche Schwierigkeiten, während sie an den rein erfundenen wirt¬
lichen Romanen ungestört vorübergehen kann. Denn diese ergehen sich, 'soweit
Man ihre Spuren verfolgen kann, namentlich nach zwei Richtungen in so extra¬
vaganter Weise, daß eine Täuschung wissenschaftlicher Leser nicht denkbar war.
Sie suchten einestheils die Theilnahme ihrer Leser durch Begebenheiten von
einer mit der neuesten Mystcricnliteratur wetteifernden Abenteuerlichkeit zu
fesseln, welche in immer fernere Gegenden verlegt werden mußten, um durch
deren phantastische Beschreibung einen entsprechenden Hintergrund zu gewinnen,
theils durch die freieste Behandlung der Liebesverhältnisse ihr Publikum zu ge¬
winnen. Die Eröffnung des Orients durch Alexander steigerte nach beiden Rich¬
tungen die Leistungen dieser Schriftstellers in einer Weise, welche uns von
dem Geschmack des großen Publikums eigenthümliche Borstellungen fassen läßt.


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Eine antike Dorfgeschichte.

Bei einer Ueberschau der weitschichtigen Ueberreste der antiken Literatur
finden wir eine Gattung verhältnismäßig sehr schwach vertreten, welche in der
modernen Literatur einen sehr breiten Raum einnimmt, die eigentlichen Unter¬
haltungsschriften, namentlich Roman und Novelle. Was von antiken Ro¬
manen auf uns gekommen ist, gehört fast ausnahmslos ganz später Zeit an
und ist allerdings nicht geeignet, uns eine entsprechende Vorstellung von dem
M geben, was auf diesem Gebiet geleistet worden ist, wenn auch in manchen
Zügen die ältere Tradition noch gewahrt erscheint. Denn daß die Griechen, welche
so gern erzählten und so gern dem Erzähler zuhörten, auch die erzählende Li¬
teratur nicht vernachlässigt haben, ist unbezweifelt, und von den Schiffermärchen
der Odyssee an gab es immer Erzählungen, in denen die Berichterstatter Wahr¬
heit und Dichtung nach Lust und Behagen zur Unterhaltung des Lesers misch¬
ten. Daß diese Elemente vielfach in die eigentlich historische und philosophische
Literatur eindrangen und mancherlei ernsthaft gemeinten Tendenzen dienten,
hat freilich seine bedenkliclien Seiten und bereitet der forschenden Wissenschaft
nicht selten erhebliche Schwierigkeiten, während sie an den rein erfundenen wirt¬
lichen Romanen ungestört vorübergehen kann. Denn diese ergehen sich, 'soweit
Man ihre Spuren verfolgen kann, namentlich nach zwei Richtungen in so extra¬
vaganter Weise, daß eine Täuschung wissenschaftlicher Leser nicht denkbar war.
Sie suchten einestheils die Theilnahme ihrer Leser durch Begebenheiten von
einer mit der neuesten Mystcricnliteratur wetteifernden Abenteuerlichkeit zu
fesseln, welche in immer fernere Gegenden verlegt werden mußten, um durch
deren phantastische Beschreibung einen entsprechenden Hintergrund zu gewinnen,
theils durch die freieste Behandlung der Liebesverhältnisse ihr Publikum zu ge¬
winnen. Die Eröffnung des Orients durch Alexander steigerte nach beiden Rich¬
tungen die Leistungen dieser Schriftstellers in einer Weise, welche uns von
dem Geschmack des großen Publikums eigenthümliche Borstellungen fassen läßt.


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[0371] Eine antike Dorfgeschichte. Bei einer Ueberschau der weitschichtigen Ueberreste der antiken Literatur finden wir eine Gattung verhältnismäßig sehr schwach vertreten, welche in der modernen Literatur einen sehr breiten Raum einnimmt, die eigentlichen Unter¬ haltungsschriften, namentlich Roman und Novelle. Was von antiken Ro¬ manen auf uns gekommen ist, gehört fast ausnahmslos ganz später Zeit an und ist allerdings nicht geeignet, uns eine entsprechende Vorstellung von dem M geben, was auf diesem Gebiet geleistet worden ist, wenn auch in manchen Zügen die ältere Tradition noch gewahrt erscheint. Denn daß die Griechen, welche so gern erzählten und so gern dem Erzähler zuhörten, auch die erzählende Li¬ teratur nicht vernachlässigt haben, ist unbezweifelt, und von den Schiffermärchen der Odyssee an gab es immer Erzählungen, in denen die Berichterstatter Wahr¬ heit und Dichtung nach Lust und Behagen zur Unterhaltung des Lesers misch¬ ten. Daß diese Elemente vielfach in die eigentlich historische und philosophische Literatur eindrangen und mancherlei ernsthaft gemeinten Tendenzen dienten, hat freilich seine bedenkliclien Seiten und bereitet der forschenden Wissenschaft nicht selten erhebliche Schwierigkeiten, während sie an den rein erfundenen wirt¬ lichen Romanen ungestört vorübergehen kann. Denn diese ergehen sich, 'soweit Man ihre Spuren verfolgen kann, namentlich nach zwei Richtungen in so extra¬ vaganter Weise, daß eine Täuschung wissenschaftlicher Leser nicht denkbar war. Sie suchten einestheils die Theilnahme ihrer Leser durch Begebenheiten von einer mit der neuesten Mystcricnliteratur wetteifernden Abenteuerlichkeit zu fesseln, welche in immer fernere Gegenden verlegt werden mußten, um durch deren phantastische Beschreibung einen entsprechenden Hintergrund zu gewinnen, theils durch die freieste Behandlung der Liebesverhältnisse ihr Publikum zu ge¬ winnen. Die Eröffnung des Orients durch Alexander steigerte nach beiden Rich¬ tungen die Leistungen dieser Schriftstellers in einer Weise, welche uns von dem Geschmack des großen Publikums eigenthümliche Borstellungen fassen läßt. Vrenjbvte» III. 1««>7, 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/371>, abgerufen am 15.01.2025.