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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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wichtigsten Urkunden und Briefe bewahrt, welche aller Wahrscheinlichkeit nach
verloren gegangen wären, wenn nicht das Bedürfniß der Zeit nach Muster-
briefen sie vervielfältigt und vor den mannigfaltigen Gefahren der Zerstörung
geschützt hätte. Ich erwähnte schon die unschätzbaren Briefe des Cassiodor. welche
uns über die Zustände der auf den Trümmern des römischen Imperium
gegründeten Staaten Aufschluß geben, von denen sonst nur eine äußerst dürf¬
tige Kunde zu uns kommt; ähnlich ist es mit den Briefen, welche Udalrich
von Bamberg im Jahre 1125 sammelte und mit zahllosen andern, von
Kaisern und Päpsten, Von Fürsten und Bischöfen, von Geistlichen und Laien
aller Art.

Man bewahrte sie ihrer Form wegen, uns fesselt ihr Inhalt, der uns in
das Thun und Treiben der verschiedensten Stände einführt, die Gedanken ein¬
flußreicher Personen bei folgenschweren Entschließungen offenbart.

Aber dabei ist eine große Gefahr. Viele echte Briefe sind nur verstümmelt
aufgenommen, meist sind alle oder doch einige Namen der in Rede stehenden
Personen und Orte weggelassen oder nur durch den Anfangsbuchstaben bezeich¬
net, gleich als fürchtete man, ein gedankenloser Schreiber könne die Namen des
Musterbriefes eintragen, statt der in seinem Falle erforderlichen.

Da hören wir also von Schicksalen, und wissen nicht, wen sie trafen; wir
lesen Worte, und wissen nicht, wer sie spricht. Der Brief bleibt ein todter
Schatz, bis wir das Zauberwort finden, ihn zu heben. -- Andere Briefe zeigen
gar falsche Namen.

Ein sächsischer Sammler nahm einen italienischen Brief auf, localisirte ihn
aber in seiner Heimath d. h. er datirte ihn aus Meißen statt aus Cremona,
schrieb Rudolf, wo Alberich stand. Daher finden wir wohl ein und denselben
Brief in den verschiedenen Sammelungen an verschiedene Personen, nach ver¬
schiedenen Orten gerichtet; und dürfen ihn deshalb doch nicht für erdichtet er¬
klären; er ist nur in mehren Gegenden localisirt. Solche Briefe gleichen
neckischen Kobolden, wenn jene ein todter Schatz waren, und sie begegnen uns
häusig genug, um zur Vorsicht zu mahnen.

Doch die größte Gefahr bereiten die rein erdichteten Briefe, welche oft mit
großer Gewandtheit den Verhältnissen und den Personen angepaßt sind, deren
Namen sie tragen. So hat sich selbst der scharfe Kritiker Jaffe verleiten lassen,
in seiner Geschichte Lothars von Sachsen eine Reihe von Briefen zu benutzen,
welche der Kaiser Lothar (1123--37) und der Papst Innocenz der Zweite unter
einander und mit Fürsten und Städten gewechselt haben sollen. Und doch sind
sie alle erdichtet, sind sie alle Erzeugnisse eines Meisters der ars äiotuuäi, der
bei guter Kenntniß und geschickter Benutzung der Ereignisse des Jahres 1132,
eine Reihe der verschiedensten Personen und Körperschaften über die Verhältnisse
jener Tage Briefe wechseln läßt.


wichtigsten Urkunden und Briefe bewahrt, welche aller Wahrscheinlichkeit nach
verloren gegangen wären, wenn nicht das Bedürfniß der Zeit nach Muster-
briefen sie vervielfältigt und vor den mannigfaltigen Gefahren der Zerstörung
geschützt hätte. Ich erwähnte schon die unschätzbaren Briefe des Cassiodor. welche
uns über die Zustände der auf den Trümmern des römischen Imperium
gegründeten Staaten Aufschluß geben, von denen sonst nur eine äußerst dürf¬
tige Kunde zu uns kommt; ähnlich ist es mit den Briefen, welche Udalrich
von Bamberg im Jahre 1125 sammelte und mit zahllosen andern, von
Kaisern und Päpsten, Von Fürsten und Bischöfen, von Geistlichen und Laien
aller Art.

Man bewahrte sie ihrer Form wegen, uns fesselt ihr Inhalt, der uns in
das Thun und Treiben der verschiedensten Stände einführt, die Gedanken ein¬
flußreicher Personen bei folgenschweren Entschließungen offenbart.

Aber dabei ist eine große Gefahr. Viele echte Briefe sind nur verstümmelt
aufgenommen, meist sind alle oder doch einige Namen der in Rede stehenden
Personen und Orte weggelassen oder nur durch den Anfangsbuchstaben bezeich¬
net, gleich als fürchtete man, ein gedankenloser Schreiber könne die Namen des
Musterbriefes eintragen, statt der in seinem Falle erforderlichen.

Da hören wir also von Schicksalen, und wissen nicht, wen sie trafen; wir
lesen Worte, und wissen nicht, wer sie spricht. Der Brief bleibt ein todter
Schatz, bis wir das Zauberwort finden, ihn zu heben. — Andere Briefe zeigen
gar falsche Namen.

Ein sächsischer Sammler nahm einen italienischen Brief auf, localisirte ihn
aber in seiner Heimath d. h. er datirte ihn aus Meißen statt aus Cremona,
schrieb Rudolf, wo Alberich stand. Daher finden wir wohl ein und denselben
Brief in den verschiedenen Sammelungen an verschiedene Personen, nach ver¬
schiedenen Orten gerichtet; und dürfen ihn deshalb doch nicht für erdichtet er¬
klären; er ist nur in mehren Gegenden localisirt. Solche Briefe gleichen
neckischen Kobolden, wenn jene ein todter Schatz waren, und sie begegnen uns
häusig genug, um zur Vorsicht zu mahnen.

Doch die größte Gefahr bereiten die rein erdichteten Briefe, welche oft mit
großer Gewandtheit den Verhältnissen und den Personen angepaßt sind, deren
Namen sie tragen. So hat sich selbst der scharfe Kritiker Jaffe verleiten lassen,
in seiner Geschichte Lothars von Sachsen eine Reihe von Briefen zu benutzen,
welche der Kaiser Lothar (1123—37) und der Papst Innocenz der Zweite unter
einander und mit Fürsten und Städten gewechselt haben sollen. Und doch sind
sie alle erdichtet, sind sie alle Erzeugnisse eines Meisters der ars äiotuuäi, der
bei guter Kenntniß und geschickter Benutzung der Ereignisse des Jahres 1132,
eine Reihe der verschiedensten Personen und Körperschaften über die Verhältnisse
jener Tage Briefe wechseln läßt.


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[0346] wichtigsten Urkunden und Briefe bewahrt, welche aller Wahrscheinlichkeit nach verloren gegangen wären, wenn nicht das Bedürfniß der Zeit nach Muster- briefen sie vervielfältigt und vor den mannigfaltigen Gefahren der Zerstörung geschützt hätte. Ich erwähnte schon die unschätzbaren Briefe des Cassiodor. welche uns über die Zustände der auf den Trümmern des römischen Imperium gegründeten Staaten Aufschluß geben, von denen sonst nur eine äußerst dürf¬ tige Kunde zu uns kommt; ähnlich ist es mit den Briefen, welche Udalrich von Bamberg im Jahre 1125 sammelte und mit zahllosen andern, von Kaisern und Päpsten, Von Fürsten und Bischöfen, von Geistlichen und Laien aller Art. Man bewahrte sie ihrer Form wegen, uns fesselt ihr Inhalt, der uns in das Thun und Treiben der verschiedensten Stände einführt, die Gedanken ein¬ flußreicher Personen bei folgenschweren Entschließungen offenbart. Aber dabei ist eine große Gefahr. Viele echte Briefe sind nur verstümmelt aufgenommen, meist sind alle oder doch einige Namen der in Rede stehenden Personen und Orte weggelassen oder nur durch den Anfangsbuchstaben bezeich¬ net, gleich als fürchtete man, ein gedankenloser Schreiber könne die Namen des Musterbriefes eintragen, statt der in seinem Falle erforderlichen. Da hören wir also von Schicksalen, und wissen nicht, wen sie trafen; wir lesen Worte, und wissen nicht, wer sie spricht. Der Brief bleibt ein todter Schatz, bis wir das Zauberwort finden, ihn zu heben. — Andere Briefe zeigen gar falsche Namen. Ein sächsischer Sammler nahm einen italienischen Brief auf, localisirte ihn aber in seiner Heimath d. h. er datirte ihn aus Meißen statt aus Cremona, schrieb Rudolf, wo Alberich stand. Daher finden wir wohl ein und denselben Brief in den verschiedenen Sammelungen an verschiedene Personen, nach ver¬ schiedenen Orten gerichtet; und dürfen ihn deshalb doch nicht für erdichtet er¬ klären; er ist nur in mehren Gegenden localisirt. Solche Briefe gleichen neckischen Kobolden, wenn jene ein todter Schatz waren, und sie begegnen uns häusig genug, um zur Vorsicht zu mahnen. Doch die größte Gefahr bereiten die rein erdichteten Briefe, welche oft mit großer Gewandtheit den Verhältnissen und den Personen angepaßt sind, deren Namen sie tragen. So hat sich selbst der scharfe Kritiker Jaffe verleiten lassen, in seiner Geschichte Lothars von Sachsen eine Reihe von Briefen zu benutzen, welche der Kaiser Lothar (1123—37) und der Papst Innocenz der Zweite unter einander und mit Fürsten und Städten gewechselt haben sollen. Und doch sind sie alle erdichtet, sind sie alle Erzeugnisse eines Meisters der ars äiotuuäi, der bei guter Kenntniß und geschickter Benutzung der Ereignisse des Jahres 1132, eine Reihe der verschiedensten Personen und Körperschaften über die Verhältnisse jener Tage Briefe wechseln läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/346>, abgerufen am 15.01.2025.