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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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noch größere Zugeständnisse machen werde, deren Endziel eine möglichst voll¬
ständige Unabhängigkeit von Staat und Kirche sei.

Aber auch mit der Gesetzgebung ging es inzwischen bei den sich drängenden
Aufgaben aller Art und bei dem schwierigen Charakter der kirchenpolitischen
Fragen nur langsam vorwärts. Nicht einmal die Abschaffung der Conscriptions-
freiheit der Kleriker kam zu Stande. Das Wichtigste war, daß im Jahre 1865
die Civilehe durchgesetzt wurde. Dagegen wurden über die Aufhebung der Klöster
und die Einziehung des Kirchenguts seit 1864 nach einander drei Vorlagen aus¬
gearbeitet, die sämmtlich gescheitert sind; die dritte war diejenige, die im Juni
voriges Jahres, als alle Gemüther von dem unmittelbar bevorstehenden Krieg
in Anspruch genommen waren, ohne eingehende Prüfung, zu der niemand Zeit
noch Lust hatte, in aller Eile angenommen wurde. Als dann nach dem Krieg
die Regierung wiederum an die Kloster- und Kirchengutsfrage trat, lag zugleich
die Nöthigung vor. dieselbe in einem weit größeren Zusammenhang wiederauf¬
zunehmen. Jetzt, da der Septembervertrag ausgeführt wurde, die Franzosen
Rom verließen und das römische Problem endlich zu einer inneritalienischen An¬
gelegenheit geworden war. schien auch der Augenblick gekommen, von neuem
eine principielle Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu versuchen, die
auf dem Grundsatz der Unabhängigkeit beider Gewalten beruhte und zugleich
-- denn dies Moment des cavourschcn Programms ist nicht zu übersehen --
die freiwillige Zustimmung der Curie selbst zu erlangen hoffen konnte.

Unter diesen Umständen und nach solchen Prämissen entstand der compli-
cirte Entwurf, mit dem die Minister Ricasoli, Scialoja und Borgatti im Januar
d. I. vor die Kammer traten. Es war im Grund das erste Mal, daß der
Versuch angestellt wurde, was bisher blos Programm und Doctrin gewesen
war, in den einzelnen Bestimmungen auszuarbeiten und zu einem zusammen¬
hängenden so viele widerstreitende Interessen ausgleichenden System zu gestalten.
Kein Wunder, daß dieser erste Versuch mißlang. Jetzt erst beim Beginn der
praktischen Durchführung ward man inne. daß das Schiboleth, das diser ohne
viel Denken alle im Mund geführt hatten, sehr verschiedener Auslegung sähig
war. Der Papst verstand die Freiheit der Kirche anders als die Liberalen, und
diese selbst wieder gingen in sehr verschiedene Meinungen auseinander, je nach¬
dem sie rascher oder, weniger rasch eine reine Lösung herbeizuführen gedachten,
je nachdem sie mehr oder minder conseaucnt von dem Gedanken der Freiheit
der Kirche zu der Folgerung der völligen Religionslosigkeit des Staats, der ab¬
soluten Glaubens- und Denkfreiheit und deren unmittelbaren Verwirklichung
fortgingen. Viele wurden nun doch stutzig, als der Staat die mühsam er¬
rungenen Privilegien, die bisher sein Schutz gegen einen Staat im Staate
gewesen waren, noch dazu in einem fast ausnahmslos katholischen Lande und
bei einer unwissenden, von d,en Priestern beherrschten Bevölkerung einfach Preis


noch größere Zugeständnisse machen werde, deren Endziel eine möglichst voll¬
ständige Unabhängigkeit von Staat und Kirche sei.

Aber auch mit der Gesetzgebung ging es inzwischen bei den sich drängenden
Aufgaben aller Art und bei dem schwierigen Charakter der kirchenpolitischen
Fragen nur langsam vorwärts. Nicht einmal die Abschaffung der Conscriptions-
freiheit der Kleriker kam zu Stande. Das Wichtigste war, daß im Jahre 1865
die Civilehe durchgesetzt wurde. Dagegen wurden über die Aufhebung der Klöster
und die Einziehung des Kirchenguts seit 1864 nach einander drei Vorlagen aus¬
gearbeitet, die sämmtlich gescheitert sind; die dritte war diejenige, die im Juni
voriges Jahres, als alle Gemüther von dem unmittelbar bevorstehenden Krieg
in Anspruch genommen waren, ohne eingehende Prüfung, zu der niemand Zeit
noch Lust hatte, in aller Eile angenommen wurde. Als dann nach dem Krieg
die Regierung wiederum an die Kloster- und Kirchengutsfrage trat, lag zugleich
die Nöthigung vor. dieselbe in einem weit größeren Zusammenhang wiederauf¬
zunehmen. Jetzt, da der Septembervertrag ausgeführt wurde, die Franzosen
Rom verließen und das römische Problem endlich zu einer inneritalienischen An¬
gelegenheit geworden war. schien auch der Augenblick gekommen, von neuem
eine principielle Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu versuchen, die
auf dem Grundsatz der Unabhängigkeit beider Gewalten beruhte und zugleich
— denn dies Moment des cavourschcn Programms ist nicht zu übersehen —
die freiwillige Zustimmung der Curie selbst zu erlangen hoffen konnte.

Unter diesen Umständen und nach solchen Prämissen entstand der compli-
cirte Entwurf, mit dem die Minister Ricasoli, Scialoja und Borgatti im Januar
d. I. vor die Kammer traten. Es war im Grund das erste Mal, daß der
Versuch angestellt wurde, was bisher blos Programm und Doctrin gewesen
war, in den einzelnen Bestimmungen auszuarbeiten und zu einem zusammen¬
hängenden so viele widerstreitende Interessen ausgleichenden System zu gestalten.
Kein Wunder, daß dieser erste Versuch mißlang. Jetzt erst beim Beginn der
praktischen Durchführung ward man inne. daß das Schiboleth, das diser ohne
viel Denken alle im Mund geführt hatten, sehr verschiedener Auslegung sähig
war. Der Papst verstand die Freiheit der Kirche anders als die Liberalen, und
diese selbst wieder gingen in sehr verschiedene Meinungen auseinander, je nach¬
dem sie rascher oder, weniger rasch eine reine Lösung herbeizuführen gedachten,
je nachdem sie mehr oder minder conseaucnt von dem Gedanken der Freiheit
der Kirche zu der Folgerung der völligen Religionslosigkeit des Staats, der ab¬
soluten Glaubens- und Denkfreiheit und deren unmittelbaren Verwirklichung
fortgingen. Viele wurden nun doch stutzig, als der Staat die mühsam er¬
rungenen Privilegien, die bisher sein Schutz gegen einen Staat im Staate
gewesen waren, noch dazu in einem fast ausnahmslos katholischen Lande und
bei einer unwissenden, von d,en Priestern beherrschten Bevölkerung einfach Preis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/510>, abgerufen am 03.07.2024.