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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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widerrechtlich in Besitz genommene und illegitim verschenkte Rcichsgüter zurück¬
zufordern. "Indem alle das Ihrige suchen" -- ruft er aus -- "das Reich
aber zu nichte wird, muß nothwendig allgemeine Zerrüttung entstehen. Denn
wenn nicht mehr die größere erhaltende und befriedende Macht des Reiches be¬
steht, wenn die Glieder die ganze Macht des Hauptes zerreißen und verschlingen,
so wird bei stets wachsender Begierde der Neid Kriege, Spaltungen und Par-
teiungen herbeiführen. An die Stelle der Ordnung wird Verwirrung treten,
da kein Erster mehr da ist, zu welchem man um Hilfe gehen könnte, und wah¬
rend die Edlen nnter sich streiten, werden sich erheben, die all ihr Recht in den
eigenen Waffen suchen ze." "Es giebt" --so fährt er fort -- "in Deutschland
keinen öffentlichen Rechtszustand, keine Gerechtigkeit mehr. Durch sogenannte
Ehre wird die Ehre vom Rechte getrennt und die Edlen behaupten, sie könnten
auch die größten Güter erlaubtcrweise in Besitz nehmen, wo sie zugestehen, daß
der Besitzergrcifer kein Recht gehabt, noch habe. Sie meinen, durch einen elenden
Fehdebrief könne die Ehre gewahrt werden; nach Uebersendung eines solchen
sei es ihnen erlaubt, das aus jeder beliebigen erdichteten oder auch aus gar
keiner Ursache Geraubte, auch wenn es Güter der Kirche oder von Geistlichen
wären, zu behalten." Cnsanns sieht das Reich der Deutschen als von einer
tödtlichen Krankheit ergriffen und den Tod als unzweifelhaft bevorstehend an,
wenn nicht bald durch wirksame Gegenmittel Heilung geschafft werde. "Man
wird dann das Reich in Deutschland suchen" -- ruft er aus -- "und es nicht
finden. Fremde werden unser Land einnehmen und sich unter uns theilen, und
so werden wir Unterthanen eines anderen Volkes werden."

Cnsanus tritt nun mit den Reformvorschlägen selbst vor, in denen er die
geeigneten Heilmittel erblickt und durch welche sich wie ein rother Faden vor
allem der Grundgedanke des ganzen Werkes zieht: auf einer wahlhaft inner¬
lichen Harmonie, die ans einer Versöhnung der Gegensätze hervorgeht, auf einer
wahrhaft organischen Einheit -- anstalt eines blos äußerlichen Zwangs- und
Ruhestands -- das neue Leben in Staat und Kirche aufzubauen.

Dieses Ziel verfolgend stellt Cusanus an die Spitze seiner Betrachtungen
überhaupt, als der menschlichen Vernunft innewohnend, den allgemeinen Satz:
daß zur Leitung des Staats die Weiseren und Vorzügiicheren berufen seien;
daß, wie der Staat überhaupt auf Naturnothwendigkeit beruhe, so der Beruf
der Obrigkeit göttliche" Ursprungs sei, daß er aber, da alle Mensche" von Natur
ßlcich mächtig und frei seien, nur durch freiwillige Zustimmung und Unter¬
werfung von Seiten der Regierten zur concreten Lcnrnrklichung kommen könne
und daß daher zu einer wahren Concordanz im Staate nur auf dem Wege
einer gemeinsamen freien Verständigung zwischen Obrigkeit und Unterthanen zu
gelangen sei. Er betrachtet es demnach als ein nothwendiges Erforderniß, daß
die Gesetze von denen, welche durch sie verpflichtn werden sollen, wenigstens


widerrechtlich in Besitz genommene und illegitim verschenkte Rcichsgüter zurück¬
zufordern. „Indem alle das Ihrige suchen" — ruft er aus — „das Reich
aber zu nichte wird, muß nothwendig allgemeine Zerrüttung entstehen. Denn
wenn nicht mehr die größere erhaltende und befriedende Macht des Reiches be¬
steht, wenn die Glieder die ganze Macht des Hauptes zerreißen und verschlingen,
so wird bei stets wachsender Begierde der Neid Kriege, Spaltungen und Par-
teiungen herbeiführen. An die Stelle der Ordnung wird Verwirrung treten,
da kein Erster mehr da ist, zu welchem man um Hilfe gehen könnte, und wah¬
rend die Edlen nnter sich streiten, werden sich erheben, die all ihr Recht in den
eigenen Waffen suchen ze." „Es giebt" —so fährt er fort — „in Deutschland
keinen öffentlichen Rechtszustand, keine Gerechtigkeit mehr. Durch sogenannte
Ehre wird die Ehre vom Rechte getrennt und die Edlen behaupten, sie könnten
auch die größten Güter erlaubtcrweise in Besitz nehmen, wo sie zugestehen, daß
der Besitzergrcifer kein Recht gehabt, noch habe. Sie meinen, durch einen elenden
Fehdebrief könne die Ehre gewahrt werden; nach Uebersendung eines solchen
sei es ihnen erlaubt, das aus jeder beliebigen erdichteten oder auch aus gar
keiner Ursache Geraubte, auch wenn es Güter der Kirche oder von Geistlichen
wären, zu behalten." Cnsanns sieht das Reich der Deutschen als von einer
tödtlichen Krankheit ergriffen und den Tod als unzweifelhaft bevorstehend an,
wenn nicht bald durch wirksame Gegenmittel Heilung geschafft werde. „Man
wird dann das Reich in Deutschland suchen" — ruft er aus — „und es nicht
finden. Fremde werden unser Land einnehmen und sich unter uns theilen, und
so werden wir Unterthanen eines anderen Volkes werden."

Cnsanus tritt nun mit den Reformvorschlägen selbst vor, in denen er die
geeigneten Heilmittel erblickt und durch welche sich wie ein rother Faden vor
allem der Grundgedanke des ganzen Werkes zieht: auf einer wahlhaft inner¬
lichen Harmonie, die ans einer Versöhnung der Gegensätze hervorgeht, auf einer
wahrhaft organischen Einheit — anstalt eines blos äußerlichen Zwangs- und
Ruhestands — das neue Leben in Staat und Kirche aufzubauen.

Dieses Ziel verfolgend stellt Cusanus an die Spitze seiner Betrachtungen
überhaupt, als der menschlichen Vernunft innewohnend, den allgemeinen Satz:
daß zur Leitung des Staats die Weiseren und Vorzügiicheren berufen seien;
daß, wie der Staat überhaupt auf Naturnothwendigkeit beruhe, so der Beruf
der Obrigkeit göttliche» Ursprungs sei, daß er aber, da alle Mensche» von Natur
ßlcich mächtig und frei seien, nur durch freiwillige Zustimmung und Unter¬
werfung von Seiten der Regierten zur concreten Lcnrnrklichung kommen könne
und daß daher zu einer wahren Concordanz im Staate nur auf dem Wege
einer gemeinsamen freien Verständigung zwischen Obrigkeit und Unterthanen zu
gelangen sei. Er betrachtet es demnach als ein nothwendiges Erforderniß, daß
die Gesetze von denen, welche durch sie verpflichtn werden sollen, wenigstens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/475>, abgerufen am 01.10.2024.