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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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fische Literatenthum ignorirt, es wäre an sich selbst gestorben und hätte die
Macht des polnischen Einflusses nimmer gefährdet. Nach wie vor hätten die
polnische" Gymnasien in den Städten ihre Anziehungskraft für die bildungs¬
bedürftige Jugend bewährt, die polnischen Gutsbesitzer ihre Herrensitze zu den
maßgebenden Bildungsoasen des flachen Landes gemacht und die "KussKo-
Mli^I^'g, Radien," (die russische Literaturgesellschaft) wäre das Spielwerk einer
kleinen Schar einflußloser Gelehrter geblieben. Der Leidenschaftlichkeit, mit
welcher die galizischen Polen die ursprünglich harmlosen Anstalten angriffen,
welche das Jahr 1848 ins Leben gerufen.hatte, ist es zuzuschreiben, daß die¬
selben jetzt zu einer politischen Bedeutung gelaugt sind und in Moskau und
Petersburg für nationale Heiligthümer gelten, deren Beschützung und Aufrecht¬
erhaltung für eine Ehrensache der gesammten russischen Nation ausgegeben
werden kann. Wunderbar genug, daß das russische Element in den dem rus¬
sischen Scepter unterworfenen, früher polnischen Ländern trotz aller Anstrengungen
der Negierung leblos geblieben ist und ausschließlich von den Beamten und
Soldaten repräsentirt wird, welche Murawjew und dessen Nachfolger nach Wilna
und in die übrigen westrussischen Städte gezogen haben. Von einer auto-
chthonen Bildungspartei, von lithauisch-russischen Gelehrten und Journalisten ist
hier nirgend eine Spur zu entdecken, denn der Einfluß der Negierung hat die
Polen dieser Länder daran verhindert, das unkluge Verfahren ihrer galizischen
Stammesbrüder nachzuahmen und eine nationale Opposition wachzurufen. Um
den Nachweis dafür zu führen, daß das westrussische Volk noch nicht ganz po-
lonisirt sei, müssen die Kawelin, Pogodin, Akasakow u. s. w. (die wissenschaft¬
lichen Vertreter der Russisicationspoliut) über die Grenzen des russischen Staats
hinausgreifen und zu den galizischen Stammesbrüdern ihre Zuflucht nehmen.
Dieser Umstand erklärt den lebhaften Antheil, welchen Regierung und Presse
Rußlands an den Vorgängen im Verwaltungsgebiete Goluchvwkis nehmen.
Gelingt es dem zur Zeit mit der östreichischen Regierung verbündeten Polenthum,
der nationalen Bewegung unter den russischen Gelehrten Galiziens Herr zu
werden und die Integrität des polnische" Charakters der Länder östlich vom
San zu behaupte", so geht den russischen Bestrebungen in Lithauen und Wei߬
rußland der einzige unabhängige, auf nationalem Boden geborene Bundes-
genosse verloren, den sie in Polnisch-Rußland überhaupt besitzen.

Daß man in Wien gegenwärtig die Polen auf Unkosten der Russen be¬
günstigt, hat seinen Hauptgrund in der Furcht vor der Befestigung des russischen
Nationaleinflusses in den an der östreichischen Grenze belegenen russischen und
polnischen Gouvernements. So lange die russische Nati.vnalpartei Galiziens
eine isolitte Erscheinung war und sich damit begnügte, ein specifisches Nuthenen-
thum zu begründen und dem polnischen Einfluß entgegenzusetzen, schien sie wenig
gefährlich. Die Bezeichnung "Ruthenen" wird von den Männern der lembergcr


fische Literatenthum ignorirt, es wäre an sich selbst gestorben und hätte die
Macht des polnischen Einflusses nimmer gefährdet. Nach wie vor hätten die
polnische» Gymnasien in den Städten ihre Anziehungskraft für die bildungs¬
bedürftige Jugend bewährt, die polnischen Gutsbesitzer ihre Herrensitze zu den
maßgebenden Bildungsoasen des flachen Landes gemacht und die „KussKo-
Mli^I^'g, Radien," (die russische Literaturgesellschaft) wäre das Spielwerk einer
kleinen Schar einflußloser Gelehrter geblieben. Der Leidenschaftlichkeit, mit
welcher die galizischen Polen die ursprünglich harmlosen Anstalten angriffen,
welche das Jahr 1848 ins Leben gerufen.hatte, ist es zuzuschreiben, daß die¬
selben jetzt zu einer politischen Bedeutung gelaugt sind und in Moskau und
Petersburg für nationale Heiligthümer gelten, deren Beschützung und Aufrecht¬
erhaltung für eine Ehrensache der gesammten russischen Nation ausgegeben
werden kann. Wunderbar genug, daß das russische Element in den dem rus¬
sischen Scepter unterworfenen, früher polnischen Ländern trotz aller Anstrengungen
der Negierung leblos geblieben ist und ausschließlich von den Beamten und
Soldaten repräsentirt wird, welche Murawjew und dessen Nachfolger nach Wilna
und in die übrigen westrussischen Städte gezogen haben. Von einer auto-
chthonen Bildungspartei, von lithauisch-russischen Gelehrten und Journalisten ist
hier nirgend eine Spur zu entdecken, denn der Einfluß der Negierung hat die
Polen dieser Länder daran verhindert, das unkluge Verfahren ihrer galizischen
Stammesbrüder nachzuahmen und eine nationale Opposition wachzurufen. Um
den Nachweis dafür zu führen, daß das westrussische Volk noch nicht ganz po-
lonisirt sei, müssen die Kawelin, Pogodin, Akasakow u. s. w. (die wissenschaft¬
lichen Vertreter der Russisicationspoliut) über die Grenzen des russischen Staats
hinausgreifen und zu den galizischen Stammesbrüdern ihre Zuflucht nehmen.
Dieser Umstand erklärt den lebhaften Antheil, welchen Regierung und Presse
Rußlands an den Vorgängen im Verwaltungsgebiete Goluchvwkis nehmen.
Gelingt es dem zur Zeit mit der östreichischen Regierung verbündeten Polenthum,
der nationalen Bewegung unter den russischen Gelehrten Galiziens Herr zu
werden und die Integrität des polnische» Charakters der Länder östlich vom
San zu behaupte», so geht den russischen Bestrebungen in Lithauen und Wei߬
rußland der einzige unabhängige, auf nationalem Boden geborene Bundes-
genosse verloren, den sie in Polnisch-Rußland überhaupt besitzen.

Daß man in Wien gegenwärtig die Polen auf Unkosten der Russen be¬
günstigt, hat seinen Hauptgrund in der Furcht vor der Befestigung des russischen
Nationaleinflusses in den an der östreichischen Grenze belegenen russischen und
polnischen Gouvernements. So lange die russische Nati.vnalpartei Galiziens
eine isolitte Erscheinung war und sich damit begnügte, ein specifisches Nuthenen-
thum zu begründen und dem polnischen Einfluß entgegenzusetzen, schien sie wenig
gefährlich. Die Bezeichnung „Ruthenen" wird von den Männern der lembergcr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/389>, abgerufen am 22.12.2024.