Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Literaturgesellschaft aber gegenwärtig mit Entschiedenheit abgewiesen und eigent¬
lich nur noch von Polen und Oestreichern gebraucht. -- Die ehemaligen Ru-
thenen wissen es sehr wohl, daß sie als selbständiger Stamm ohne alle Bedeu¬
tung sind, daß ihre Zukunft von der Wiederherstellung des verloren gegangenen
Zusammenhangs mit dem großrussischen Stamm bedingt >si. Es ist nicht ab¬
sichtslos geschehen, daß man in Rußland selbst schon seit einiger Zeit eifrig
bemüht ist, alle Erinnerungen an die Verschiedenheit innerhalb der vielgeglie¬
derten russischen Völkerfamilie zu verwischen und namentlich kein specifisches
Kleinrussenthum aufkommen zu lassen. Zu dem kleinrussischen Stamme, welcher
die Gouvernements Kiew, Pollawa. Charkow, Tschernygow u. s. w. bewohnt,
gehören auch die Russen Ostgaliziens: im Hinblick auf die mit diesen herzu¬
stellende Verbindung werden die Bestrebungen der "Ukrainophilen" (mit diesem
Namen bezeichnet man die ziemlich unbedeutende kleinrussische Literaturpartei)
ebenso ängstlich überwacht, wie die der Polen und an jeder selbständigen Lebens¬
äußerung verhindert. Unter solchen Umständen ist dem wiener Cabinet nur die
Wahl zwischen Polenthum und Moskowiterthuin in Galizien gelassen und seit
sichs entschieden hat, daß die Versuche zur Herstellung einer "ruthenischen"
Nationaiiiät (gegen welche die Polen vielleicht nichts einzuwenden hätten) un¬
möglich ist, hat man sich den Polen in die Arme geworfen. Bei der Ohnmacht
deö deutschen Elements im Kaiserstaat hat an eine Germanisirung der polnischen
Länder, wie sie von Preußen in Posen erfolgreich durchgeführt worden, ohnehin
niemals gedacht werden können.

In Rußland ist es neuerdings Mode geworden, die preußischen Germani-
sativnsbestrebungen in Posen mit den Russisicationöplänen der Petersburger
Regierung zu vergleichen und es Oestreich zum Vorwurf zu machen, daß es die
einzige der drei Theilungsmächte sei. welche das verrottete Polenthum begünstige
und erhalte. Es handelt sich, wenn man die Sache näher betrachtet, in Preußen
aber doch um wesentlich andere Ziele als in Rußland und daß Oestreich der
Polen nicht entrathen kann ist auch nicht zufällig. Die preußische Regierung
stützt sich in ihren polnischen Besitzungen auf den von ihr geschaffenen wesent¬
lich deuischen Bürgerstand. Rußland will sich in der lithauisch-wcißrussischen
bäuerlichen Bevölkerung seiner westlichen Gouvernements eine Stütze schaffen.
Oestreich endlich, das keinen Bürgerstand zu begründen fähig war, und weder
unter den Bauer", noch unter den Edelleuten Galiziens Siammverwandte vor¬
fand, hat es.vorgezogen, das aristokratische Element vor dem bäuerlichen zu
begünstigen. In Preußisch-Polen ist es der Bürgerstand. in den russisch-pol¬
nischen Ländern der Bauernstand, in Galizien der Adel, der von der Regierung
in die Herrschaft eingesetzt worden ist. Hält man an dieser Thatsache fest, so
hat man den Schlüssel für die Zukunft der polnischen Frage in Händen. Dem
Bürgerstande, als dem Träger der modernen Cultur, gehört die Zukunft und


Literaturgesellschaft aber gegenwärtig mit Entschiedenheit abgewiesen und eigent¬
lich nur noch von Polen und Oestreichern gebraucht. — Die ehemaligen Ru-
thenen wissen es sehr wohl, daß sie als selbständiger Stamm ohne alle Bedeu¬
tung sind, daß ihre Zukunft von der Wiederherstellung des verloren gegangenen
Zusammenhangs mit dem großrussischen Stamm bedingt >si. Es ist nicht ab¬
sichtslos geschehen, daß man in Rußland selbst schon seit einiger Zeit eifrig
bemüht ist, alle Erinnerungen an die Verschiedenheit innerhalb der vielgeglie¬
derten russischen Völkerfamilie zu verwischen und namentlich kein specifisches
Kleinrussenthum aufkommen zu lassen. Zu dem kleinrussischen Stamme, welcher
die Gouvernements Kiew, Pollawa. Charkow, Tschernygow u. s. w. bewohnt,
gehören auch die Russen Ostgaliziens: im Hinblick auf die mit diesen herzu¬
stellende Verbindung werden die Bestrebungen der „Ukrainophilen" (mit diesem
Namen bezeichnet man die ziemlich unbedeutende kleinrussische Literaturpartei)
ebenso ängstlich überwacht, wie die der Polen und an jeder selbständigen Lebens¬
äußerung verhindert. Unter solchen Umständen ist dem wiener Cabinet nur die
Wahl zwischen Polenthum und Moskowiterthuin in Galizien gelassen und seit
sichs entschieden hat, daß die Versuche zur Herstellung einer „ruthenischen"
Nationaiiiät (gegen welche die Polen vielleicht nichts einzuwenden hätten) un¬
möglich ist, hat man sich den Polen in die Arme geworfen. Bei der Ohnmacht
deö deutschen Elements im Kaiserstaat hat an eine Germanisirung der polnischen
Länder, wie sie von Preußen in Posen erfolgreich durchgeführt worden, ohnehin
niemals gedacht werden können.

In Rußland ist es neuerdings Mode geworden, die preußischen Germani-
sativnsbestrebungen in Posen mit den Russisicationöplänen der Petersburger
Regierung zu vergleichen und es Oestreich zum Vorwurf zu machen, daß es die
einzige der drei Theilungsmächte sei. welche das verrottete Polenthum begünstige
und erhalte. Es handelt sich, wenn man die Sache näher betrachtet, in Preußen
aber doch um wesentlich andere Ziele als in Rußland und daß Oestreich der
Polen nicht entrathen kann ist auch nicht zufällig. Die preußische Regierung
stützt sich in ihren polnischen Besitzungen auf den von ihr geschaffenen wesent¬
lich deuischen Bürgerstand. Rußland will sich in der lithauisch-wcißrussischen
bäuerlichen Bevölkerung seiner westlichen Gouvernements eine Stütze schaffen.
Oestreich endlich, das keinen Bürgerstand zu begründen fähig war, und weder
unter den Bauer», noch unter den Edelleuten Galiziens Siammverwandte vor¬
fand, hat es.vorgezogen, das aristokratische Element vor dem bäuerlichen zu
begünstigen. In Preußisch-Polen ist es der Bürgerstand. in den russisch-pol¬
nischen Ländern der Bauernstand, in Galizien der Adel, der von der Regierung
in die Herrschaft eingesetzt worden ist. Hält man an dieser Thatsache fest, so
hat man den Schlüssel für die Zukunft der polnischen Frage in Händen. Dem
Bürgerstande, als dem Träger der modernen Cultur, gehört die Zukunft und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190549"/>
            <p xml:id="ID_1291" prev="#ID_1290"> Literaturgesellschaft aber gegenwärtig mit Entschiedenheit abgewiesen und eigent¬<lb/>
lich nur noch von Polen und Oestreichern gebraucht. &#x2014; Die ehemaligen Ru-<lb/>
thenen wissen es sehr wohl, daß sie als selbständiger Stamm ohne alle Bedeu¬<lb/>
tung sind, daß ihre Zukunft von der Wiederherstellung des verloren gegangenen<lb/>
Zusammenhangs mit dem großrussischen Stamm bedingt &gt;si. Es ist nicht ab¬<lb/>
sichtslos geschehen, daß man in Rußland selbst schon seit einiger Zeit eifrig<lb/>
bemüht ist, alle Erinnerungen an die Verschiedenheit innerhalb der vielgeglie¬<lb/>
derten russischen Völkerfamilie zu verwischen und namentlich kein specifisches<lb/>
Kleinrussenthum aufkommen zu lassen. Zu dem kleinrussischen Stamme, welcher<lb/>
die Gouvernements Kiew, Pollawa. Charkow, Tschernygow u. s. w. bewohnt,<lb/>
gehören auch die Russen Ostgaliziens: im Hinblick auf die mit diesen herzu¬<lb/>
stellende Verbindung werden die Bestrebungen der &#x201E;Ukrainophilen" (mit diesem<lb/>
Namen bezeichnet man die ziemlich unbedeutende kleinrussische Literaturpartei)<lb/>
ebenso ängstlich überwacht, wie die der Polen und an jeder selbständigen Lebens¬<lb/>
äußerung verhindert. Unter solchen Umständen ist dem wiener Cabinet nur die<lb/>
Wahl zwischen Polenthum und Moskowiterthuin in Galizien gelassen und seit<lb/>
sichs entschieden hat, daß die Versuche zur Herstellung einer &#x201E;ruthenischen"<lb/>
Nationaiiiät (gegen welche die Polen vielleicht nichts einzuwenden hätten) un¬<lb/>
möglich ist, hat man sich den Polen in die Arme geworfen. Bei der Ohnmacht<lb/>
deö deutschen Elements im Kaiserstaat hat an eine Germanisirung der polnischen<lb/>
Länder, wie sie von Preußen in Posen erfolgreich durchgeführt worden, ohnehin<lb/>
niemals gedacht werden können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1292" next="#ID_1293"> In Rußland ist es neuerdings Mode geworden, die preußischen Germani-<lb/>
sativnsbestrebungen in Posen mit den Russisicationöplänen der Petersburger<lb/>
Regierung zu vergleichen und es Oestreich zum Vorwurf zu machen, daß es die<lb/>
einzige der drei Theilungsmächte sei. welche das verrottete Polenthum begünstige<lb/>
und erhalte. Es handelt sich, wenn man die Sache näher betrachtet, in Preußen<lb/>
aber doch um wesentlich andere Ziele als in Rußland und daß Oestreich der<lb/>
Polen nicht entrathen kann ist auch nicht zufällig. Die preußische Regierung<lb/>
stützt sich in ihren polnischen Besitzungen auf den von ihr geschaffenen wesent¬<lb/>
lich deuischen Bürgerstand. Rußland will sich in der lithauisch-wcißrussischen<lb/>
bäuerlichen Bevölkerung seiner westlichen Gouvernements eine Stütze schaffen.<lb/>
Oestreich endlich, das keinen Bürgerstand zu begründen fähig war, und weder<lb/>
unter den Bauer», noch unter den Edelleuten Galiziens Siammverwandte vor¬<lb/>
fand, hat es.vorgezogen, das aristokratische Element vor dem bäuerlichen zu<lb/>
begünstigen. In Preußisch-Polen ist es der Bürgerstand. in den russisch-pol¬<lb/>
nischen Ländern der Bauernstand, in Galizien der Adel, der von der Regierung<lb/>
in die Herrschaft eingesetzt worden ist. Hält man an dieser Thatsache fest, so<lb/>
hat man den Schlüssel für die Zukunft der polnischen Frage in Händen. Dem<lb/>
Bürgerstande, als dem Träger der modernen Cultur, gehört die Zukunft und</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0390] Literaturgesellschaft aber gegenwärtig mit Entschiedenheit abgewiesen und eigent¬ lich nur noch von Polen und Oestreichern gebraucht. — Die ehemaligen Ru- thenen wissen es sehr wohl, daß sie als selbständiger Stamm ohne alle Bedeu¬ tung sind, daß ihre Zukunft von der Wiederherstellung des verloren gegangenen Zusammenhangs mit dem großrussischen Stamm bedingt >si. Es ist nicht ab¬ sichtslos geschehen, daß man in Rußland selbst schon seit einiger Zeit eifrig bemüht ist, alle Erinnerungen an die Verschiedenheit innerhalb der vielgeglie¬ derten russischen Völkerfamilie zu verwischen und namentlich kein specifisches Kleinrussenthum aufkommen zu lassen. Zu dem kleinrussischen Stamme, welcher die Gouvernements Kiew, Pollawa. Charkow, Tschernygow u. s. w. bewohnt, gehören auch die Russen Ostgaliziens: im Hinblick auf die mit diesen herzu¬ stellende Verbindung werden die Bestrebungen der „Ukrainophilen" (mit diesem Namen bezeichnet man die ziemlich unbedeutende kleinrussische Literaturpartei) ebenso ängstlich überwacht, wie die der Polen und an jeder selbständigen Lebens¬ äußerung verhindert. Unter solchen Umständen ist dem wiener Cabinet nur die Wahl zwischen Polenthum und Moskowiterthuin in Galizien gelassen und seit sichs entschieden hat, daß die Versuche zur Herstellung einer „ruthenischen" Nationaiiiät (gegen welche die Polen vielleicht nichts einzuwenden hätten) un¬ möglich ist, hat man sich den Polen in die Arme geworfen. Bei der Ohnmacht deö deutschen Elements im Kaiserstaat hat an eine Germanisirung der polnischen Länder, wie sie von Preußen in Posen erfolgreich durchgeführt worden, ohnehin niemals gedacht werden können. In Rußland ist es neuerdings Mode geworden, die preußischen Germani- sativnsbestrebungen in Posen mit den Russisicationöplänen der Petersburger Regierung zu vergleichen und es Oestreich zum Vorwurf zu machen, daß es die einzige der drei Theilungsmächte sei. welche das verrottete Polenthum begünstige und erhalte. Es handelt sich, wenn man die Sache näher betrachtet, in Preußen aber doch um wesentlich andere Ziele als in Rußland und daß Oestreich der Polen nicht entrathen kann ist auch nicht zufällig. Die preußische Regierung stützt sich in ihren polnischen Besitzungen auf den von ihr geschaffenen wesent¬ lich deuischen Bürgerstand. Rußland will sich in der lithauisch-wcißrussischen bäuerlichen Bevölkerung seiner westlichen Gouvernements eine Stütze schaffen. Oestreich endlich, das keinen Bürgerstand zu begründen fähig war, und weder unter den Bauer», noch unter den Edelleuten Galiziens Siammverwandte vor¬ fand, hat es.vorgezogen, das aristokratische Element vor dem bäuerlichen zu begünstigen. In Preußisch-Polen ist es der Bürgerstand. in den russisch-pol¬ nischen Ländern der Bauernstand, in Galizien der Adel, der von der Regierung in die Herrschaft eingesetzt worden ist. Hält man an dieser Thatsache fest, so hat man den Schlüssel für die Zukunft der polnischen Frage in Händen. Dem Bürgerstande, als dem Träger der modernen Cultur, gehört die Zukunft und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/390
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/390>, abgerufen am 04.07.2024.