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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Die große Woche der Wahlen ist vorüber, der Verfassungsentwurf des neuen
Bundesstaates ist publicirt.

Die Wahlen erfolgten im Ganzen unter starker Betheiligung der Wähler.
Schon 50°/° ist bei solcher Ausdehnung des Wahlrechts ein hoher Bruchtheil,
die Ziffer stieg an vielen Orten auf 70°/°, ja hier und da bis über 90°/".
Auch bei dem Experiment der allgemeinen Wahl hat sich die gute Art unseres
Volkes bewährt. Wo nicht die Verstimmung des letzten Jahres noch das Urtheil
verwirrte, war bis in die untern Schichten die Ueberzeugung verbreitet, daß es
jetzt gelte, Neugeordnetes gesetzlich zu befestigen, überall aber suchten die Wähler
Männer, deren Charakter und Auftreten ihnen persönliches Vertrauen einflößte.
Die Warmherzigfeit und Uneigennützigkeit der Wählenden war eine der er¬
freulichsten Erscheinungen des allgemeinen Wahlrechts, möge ein gnädiges
Geschick uns diese politische Redlichkeit für alle Zukunft erhalten. Es waren
diesmal in besonderer Weise Wahlen des gemüthlichen Vertrauens, denn vor dem
Wahlact war wenig bekannt, was dem Reichstag geboten werden würde, Hoff¬
nung und Besorgniß hefteten sich an ungewisse Gerüchte. Es war günstig für
die preußische Regierung, daß sie selbst und die Gesandtenconferenz auf eine
demokratische Mehrheit rechnete, denn nur die Angst vor einem Reichstag, der
den Fürsten alle Souveränetätsrechte abreißen würde, hat die particularistischcn
Forderungen zum Schweigen gebracht und die schnelle Vereinigung herbeigeführt.

Nun sind die Wahlen weit conservativer ausgefallen, als man nach dem
ersten Entscheid größerer Städte anzunehmen geneigt war. Die Masse des
Landvolks stimmte unter dem Einfluß der Schulzen und Landräthe, weil grade
in den kleinen Kreisen die Stimmung des vorigen Jahres noch lebendig war
und eine Agitation für locale J"teressen vorläufig noch keinen Raum gewonnen.
Nur unter der Arbeiterbevölkerung größerer Städte regten sich die Socialisten,
der Reichstag wird wahrscheinlich einige dieser Gesellen zu ertragen haben.

Die Gesellschaft, welche in solcher Weise zuscunmengeladen wurde, ist so
bunt zusammengesetzt als möglich: ein Prinz des königlichen Hauses von Preußen
und neben ihm ein Repräsentant des polnischen Prätendentenhauses Fürst Czar-
toriysky, dann der König der Börse, Freiherr v. Rothschild und (wahrscheinlich)
der gegen alles Capital protcstirende Advoccit Schraps, zahlreiche Herzöge, Grafen,
nicht wenige Landräthe, dazwischen einige Bürgermeister, Juristen, Professoren
neben alten Fractionshäuptern des preußischen und anderer Landtage. Es
fehlen dem Reichstag viele Name",-welche der Deutsche bei politischer Aphele zu
nennen gewöhnt ist, -- noch ist die Wahl Twestens und v. Forckcnbccks nicht ge-


Grenzboten I. 1867. 41

Die große Woche der Wahlen ist vorüber, der Verfassungsentwurf des neuen
Bundesstaates ist publicirt.

Die Wahlen erfolgten im Ganzen unter starker Betheiligung der Wähler.
Schon 50°/° ist bei solcher Ausdehnung des Wahlrechts ein hoher Bruchtheil,
die Ziffer stieg an vielen Orten auf 70°/°, ja hier und da bis über 90°/„.
Auch bei dem Experiment der allgemeinen Wahl hat sich die gute Art unseres
Volkes bewährt. Wo nicht die Verstimmung des letzten Jahres noch das Urtheil
verwirrte, war bis in die untern Schichten die Ueberzeugung verbreitet, daß es
jetzt gelte, Neugeordnetes gesetzlich zu befestigen, überall aber suchten die Wähler
Männer, deren Charakter und Auftreten ihnen persönliches Vertrauen einflößte.
Die Warmherzigfeit und Uneigennützigkeit der Wählenden war eine der er¬
freulichsten Erscheinungen des allgemeinen Wahlrechts, möge ein gnädiges
Geschick uns diese politische Redlichkeit für alle Zukunft erhalten. Es waren
diesmal in besonderer Weise Wahlen des gemüthlichen Vertrauens, denn vor dem
Wahlact war wenig bekannt, was dem Reichstag geboten werden würde, Hoff¬
nung und Besorgniß hefteten sich an ungewisse Gerüchte. Es war günstig für
die preußische Regierung, daß sie selbst und die Gesandtenconferenz auf eine
demokratische Mehrheit rechnete, denn nur die Angst vor einem Reichstag, der
den Fürsten alle Souveränetätsrechte abreißen würde, hat die particularistischcn
Forderungen zum Schweigen gebracht und die schnelle Vereinigung herbeigeführt.

Nun sind die Wahlen weit conservativer ausgefallen, als man nach dem
ersten Entscheid größerer Städte anzunehmen geneigt war. Die Masse des
Landvolks stimmte unter dem Einfluß der Schulzen und Landräthe, weil grade
in den kleinen Kreisen die Stimmung des vorigen Jahres noch lebendig war
und eine Agitation für locale J»teressen vorläufig noch keinen Raum gewonnen.
Nur unter der Arbeiterbevölkerung größerer Städte regten sich die Socialisten,
der Reichstag wird wahrscheinlich einige dieser Gesellen zu ertragen haben.

Die Gesellschaft, welche in solcher Weise zuscunmengeladen wurde, ist so
bunt zusammengesetzt als möglich: ein Prinz des königlichen Hauses von Preußen
und neben ihm ein Repräsentant des polnischen Prätendentenhauses Fürst Czar-
toriysky, dann der König der Börse, Freiherr v. Rothschild und (wahrscheinlich)
der gegen alles Capital protcstirende Advoccit Schraps, zahlreiche Herzöge, Grafen,
nicht wenige Landräthe, dazwischen einige Bürgermeister, Juristen, Professoren
neben alten Fractionshäuptern des preußischen und anderer Landtage. Es
fehlen dem Reichstag viele Name»,-welche der Deutsche bei politischer Aphele zu
nennen gewöhnt ist, — noch ist die Wahl Twestens und v. Forckcnbccks nicht ge-


Grenzboten I. 1867. 41
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/331>, abgerufen am 22.12.2024.