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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Ludim, Biclozc und Podolien) kamen sammt drei ungeteilten Provinzen (Roth¬
rußland, Halicz und Auschwitz-Zator) bei der Theilung von 1773 auf den An¬
theil Oestreichs. Die westliche Hälfte dieses Gebiets ist aitpolnisches Land und
wird ausschließlich von Polen bewohnt, östlich vom San (einem Nebenfluh der
Weichsel) sind die Bewohner des flachen Landes russischer Abstammung*), nur
die Edelleute, römisch-katholischen Geistlichen und Stadtbewohner Polen und
römische Katholiken. Diese Daten genügen zu der Ueberzeugung, daß es sich
nur in einem Theil Galizens. dem Lande zwischen San und Pruth, um den
Kampf russischer und polnischer Ansprüche handelt, daß der polnische Charakter
der westlichen Landestheile außer Frage steht und von niemand bestritten
weiden kann; südlich vom Pruth, in der sogenannten Bukowina, herrscht end¬
lich ein dritter Volksstamm, der mit den im Herzen des Königsreichs wogenden
Streitigkeiten nichts zu thun hat, weil er keinem der rivalisirenden Stämme
angehört.

Bei diesem Resultat dürfen wir indessen noch nicht stehen bleiben. Für den
Theil Galiziens, um welchen es sich in unserer Betrachtung in erster Reihe
handelt, die alten Woyewodschaften Rothrußland und Halicz und die abgerisse¬
nen Stücke Wolynicns und Podoliens, giebt es eine noch ältere als die pol¬
nische Geographie und Geschichte. Es gilt die Auffindung eines, zweifachen
Palimpsests: unter der östreichischen Eintheilung.des Landes ist die polnische,
unter dieser die altrussische aufzusuchen. Die polnische Geschichte der russischen
Provinzen Galiziens beginnt erst i" der zweite" Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts, ihr war eine mehr als dreihundertjährige Epoche russischer Herrschaft
und Cultur vorhergegangen. Da der Streit zwischen Polen und Nüssen keines¬
wegs blos mit Argumenten der physischen Gewalt, sondern auch mit historischen
Ackerstücken und Recriminationen von unvordenklichen Alter ausgefochten wird,
müssen die Leser dieser Blätter sichs gefallen lassen, mit einer der ältesten
Perioden der russischen Geschichte Bekanntschaft zu mache".

Die Sitze jener Vvlkerfcunilie, deren nördliche Ausläufer von Rurik dem
Waräger zum Fürstenthum Nowgorod vereinigt wurden, reichten schon vor einem
Jahrtausend bis an die Karpathen herab; die Bewohner des mittleren Galizien,
welche man heute Nuthenen**) nennt, sind ebenso echte Kleinrussen, wie die




*) Eine richtige Vorstellung von der Zusammensetzung Galiziens läßt sich nur mühsam
aus der Vergleichung alter und neuer Kartenwerke gewinnen; anlangend die alten Grenzen
verdient die auf Grund des zanovischcn Atlas von 1772 herausgegebene "Na^pa Kisto^e/va,
von Pawliczcw (Warschau 1844) den Vorzug. Die ethnographischen Verhältnisse
veranschaulicht d'Eckerts "^lig,s etIinoN'aiMi<ins" (1863). trotz mancher Parteilichkeiten zu
Gunsten der Russen, am vollständigsten, Zum Vergleich empfiehlt sich endlich "Fridrich Dar¬
stellung Alt- und Ncupolens" (Berlin, bei Stuhr 18LU), desgleichen Truvctzkoy Russic-
i-ouxö". ^
Die Bezeichnung Nuthcnen soll von dem Grafen Franz Stadion "erfunden" worden
sein; die Bewohner Nothrußlands wurden zu polnischer Zeit Russen genannt, in dem fridrichs-

Ludim, Biclozc und Podolien) kamen sammt drei ungeteilten Provinzen (Roth¬
rußland, Halicz und Auschwitz-Zator) bei der Theilung von 1773 auf den An¬
theil Oestreichs. Die westliche Hälfte dieses Gebiets ist aitpolnisches Land und
wird ausschließlich von Polen bewohnt, östlich vom San (einem Nebenfluh der
Weichsel) sind die Bewohner des flachen Landes russischer Abstammung*), nur
die Edelleute, römisch-katholischen Geistlichen und Stadtbewohner Polen und
römische Katholiken. Diese Daten genügen zu der Ueberzeugung, daß es sich
nur in einem Theil Galizens. dem Lande zwischen San und Pruth, um den
Kampf russischer und polnischer Ansprüche handelt, daß der polnische Charakter
der westlichen Landestheile außer Frage steht und von niemand bestritten
weiden kann; südlich vom Pruth, in der sogenannten Bukowina, herrscht end¬
lich ein dritter Volksstamm, der mit den im Herzen des Königsreichs wogenden
Streitigkeiten nichts zu thun hat, weil er keinem der rivalisirenden Stämme
angehört.

Bei diesem Resultat dürfen wir indessen noch nicht stehen bleiben. Für den
Theil Galiziens, um welchen es sich in unserer Betrachtung in erster Reihe
handelt, die alten Woyewodschaften Rothrußland und Halicz und die abgerisse¬
nen Stücke Wolynicns und Podoliens, giebt es eine noch ältere als die pol¬
nische Geographie und Geschichte. Es gilt die Auffindung eines, zweifachen
Palimpsests: unter der östreichischen Eintheilung.des Landes ist die polnische,
unter dieser die altrussische aufzusuchen. Die polnische Geschichte der russischen
Provinzen Galiziens beginnt erst i» der zweite» Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts, ihr war eine mehr als dreihundertjährige Epoche russischer Herrschaft
und Cultur vorhergegangen. Da der Streit zwischen Polen und Nüssen keines¬
wegs blos mit Argumenten der physischen Gewalt, sondern auch mit historischen
Ackerstücken und Recriminationen von unvordenklichen Alter ausgefochten wird,
müssen die Leser dieser Blätter sichs gefallen lassen, mit einer der ältesten
Perioden der russischen Geschichte Bekanntschaft zu mache».

Die Sitze jener Vvlkerfcunilie, deren nördliche Ausläufer von Rurik dem
Waräger zum Fürstenthum Nowgorod vereinigt wurden, reichten schon vor einem
Jahrtausend bis an die Karpathen herab; die Bewohner des mittleren Galizien,
welche man heute Nuthenen**) nennt, sind ebenso echte Kleinrussen, wie die




*) Eine richtige Vorstellung von der Zusammensetzung Galiziens läßt sich nur mühsam
aus der Vergleichung alter und neuer Kartenwerke gewinnen; anlangend die alten Grenzen
verdient die auf Grund des zanovischcn Atlas von 1772 herausgegebene „Na^pa Kisto^e/va,
von Pawliczcw (Warschau 1844) den Vorzug. Die ethnographischen Verhältnisse
veranschaulicht d'Eckerts „^lig,s etIinoN'aiMi<ins" (1863). trotz mancher Parteilichkeiten zu
Gunsten der Russen, am vollständigsten, Zum Vergleich empfiehlt sich endlich „Fridrich Dar¬
stellung Alt- und Ncupolens" (Berlin, bei Stuhr 18LU), desgleichen Truvctzkoy Russic-
i-ouxö". ^
Die Bezeichnung Nuthcnen soll von dem Grafen Franz Stadion „erfunden" worden
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[0254] Ludim, Biclozc und Podolien) kamen sammt drei ungeteilten Provinzen (Roth¬ rußland, Halicz und Auschwitz-Zator) bei der Theilung von 1773 auf den An¬ theil Oestreichs. Die westliche Hälfte dieses Gebiets ist aitpolnisches Land und wird ausschließlich von Polen bewohnt, östlich vom San (einem Nebenfluh der Weichsel) sind die Bewohner des flachen Landes russischer Abstammung*), nur die Edelleute, römisch-katholischen Geistlichen und Stadtbewohner Polen und römische Katholiken. Diese Daten genügen zu der Ueberzeugung, daß es sich nur in einem Theil Galizens. dem Lande zwischen San und Pruth, um den Kampf russischer und polnischer Ansprüche handelt, daß der polnische Charakter der westlichen Landestheile außer Frage steht und von niemand bestritten weiden kann; südlich vom Pruth, in der sogenannten Bukowina, herrscht end¬ lich ein dritter Volksstamm, der mit den im Herzen des Königsreichs wogenden Streitigkeiten nichts zu thun hat, weil er keinem der rivalisirenden Stämme angehört. Bei diesem Resultat dürfen wir indessen noch nicht stehen bleiben. Für den Theil Galiziens, um welchen es sich in unserer Betrachtung in erster Reihe handelt, die alten Woyewodschaften Rothrußland und Halicz und die abgerisse¬ nen Stücke Wolynicns und Podoliens, giebt es eine noch ältere als die pol¬ nische Geographie und Geschichte. Es gilt die Auffindung eines, zweifachen Palimpsests: unter der östreichischen Eintheilung.des Landes ist die polnische, unter dieser die altrussische aufzusuchen. Die polnische Geschichte der russischen Provinzen Galiziens beginnt erst i» der zweite» Hälfte des vierzehnten Jahr¬ hunderts, ihr war eine mehr als dreihundertjährige Epoche russischer Herrschaft und Cultur vorhergegangen. Da der Streit zwischen Polen und Nüssen keines¬ wegs blos mit Argumenten der physischen Gewalt, sondern auch mit historischen Ackerstücken und Recriminationen von unvordenklichen Alter ausgefochten wird, müssen die Leser dieser Blätter sichs gefallen lassen, mit einer der ältesten Perioden der russischen Geschichte Bekanntschaft zu mache». Die Sitze jener Vvlkerfcunilie, deren nördliche Ausläufer von Rurik dem Waräger zum Fürstenthum Nowgorod vereinigt wurden, reichten schon vor einem Jahrtausend bis an die Karpathen herab; die Bewohner des mittleren Galizien, welche man heute Nuthenen**) nennt, sind ebenso echte Kleinrussen, wie die *) Eine richtige Vorstellung von der Zusammensetzung Galiziens läßt sich nur mühsam aus der Vergleichung alter und neuer Kartenwerke gewinnen; anlangend die alten Grenzen verdient die auf Grund des zanovischcn Atlas von 1772 herausgegebene „Na^pa Kisto^e/va, von Pawliczcw (Warschau 1844) den Vorzug. Die ethnographischen Verhältnisse veranschaulicht d'Eckerts „^lig,s etIinoN'aiMi<ins" (1863). trotz mancher Parteilichkeiten zu Gunsten der Russen, am vollständigsten, Zum Vergleich empfiehlt sich endlich „Fridrich Dar¬ stellung Alt- und Ncupolens" (Berlin, bei Stuhr 18LU), desgleichen Truvctzkoy Russic- i-ouxö". ^ Die Bezeichnung Nuthcnen soll von dem Grafen Franz Stadion „erfunden" worden sein; die Bewohner Nothrußlands wurden zu polnischer Zeit Russen genannt, in dem fridrichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/254>, abgerufen am 22.12.2024.