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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Verhältnisse aufreizen, drüben will der Jammer über die Knechtung des Bauern¬
standes, die Bedrückung der ruthenischen Sprache, Kirche und Literatur nicht
enden. Während die Polen Galiziens sich rühmen, dem socialistischen Terrorismus
der fanatischen russischen Bureaukratie eine heilsame Schranke an den Marken
Oestreichs entgegenzusetzen, reden die Publicisten des Golvs, der Moskwa und
der Moskaner Zeitung von der bedauernswerthen Abschwächung der bisher
durchgreifenden russischen Politik in Polen, indem sie zugleich auf die Unver-
besserlichkeit des polnischen Adels hinweisen, der, kaum zu Luft gekommen, in
Galizien sein altes Jntriguenspiel wiederaufnehme und seine neue Aera mit
schamlosen Vergewaltigungen an dem Recht und der Habe des unglücklichen
galizischen Bauern inaugurire.

Die wichtigen Gesichtspunkte für eine unparteiische Beurtheilung des er¬
bitterten Haders in Galizien, wie für die Verhältnisse des russischen Theils der
ehemals polnischen Länder lassen sich nur aus einer Betrachtung der historischen
und ethnographischen Vorgeschichte jener Ländcrgcbictc gewinnen. Weil der
Osten Europas es nicht zu festen, selbständiger Cultur fähigen politischen Gestal¬
tungen gebracht hat, seine nationalen Institutionen noch immer einen halb
barbarischen Charakter tragen, die Formen des russisch-slawischen Staatslebens
großen Theils aus dem Westen importirt sind und ein halb bekanntes Gepräge
tragen -- glaubt man in der westlichen Hälfte unseres Welttheils vielfach, jen¬
seits der Weichsel und Karpathen habe es keine eigentliche Geschichte gegeben.
Und doch sind die Kämpfe, um welche es sich auf der endlosen sarma-
tischen Ebene gegenwärtig handelt, nur directe Fortsetzungen Jahrhunderte
alter Rivalitäten, die ihren specifischen Charakter im Lauf der Zeit wenig
verändert haben. Historische und ethnographische Gegensätze, welche die Macht
der Civilisation im Occident längst gebrochen und zu einer höheren Einheit
aufgelöst hat, treiben im Osten noch ungebändigt ihr wildes Spiel, unterstützt
Von kirchlichen Spaltungen, die in der germanisch-romanischen Welt ihren dä¬
monischen Einfluß seit einem Jahrhundert eingebüßt haben. Seine ursprüng¬
liche Bedeutung hatte das sogenannte Nationalitätsprincip in Deutschland.
Frankreich, England u. s. w. verloren, bevor auch nur der Name für dasselbe
erfunden war. Je weiter wir nach Westen gehen, desto vollständiger decken sich
die politischen und nationalen Grenzen; die Naccnunterschiede in den einzelnen
Staatsverbänden haben (wenn wir Irland aufnehmen) in den westlichen Cultur¬
ländern ihre Rolle längst ausgespielt, die Macht der Civilisation hat die sla¬
wischen Gruppen innerhalb des deutschen, die galizischen Stämme innerhalb des
englischen Staatsgebiets längst consumirt, die verschiedenen Bestandtheile des
französischen oder des spanischen Volks zu einer ununterscheidbaren Masse zu¬
sammengegossen und die Parteien, nach welchen man sich in diesen Ländern
classificirt und zusammenfindet, gruppiren sich um Gegensätze feinerer, geistigerer


Verhältnisse aufreizen, drüben will der Jammer über die Knechtung des Bauern¬
standes, die Bedrückung der ruthenischen Sprache, Kirche und Literatur nicht
enden. Während die Polen Galiziens sich rühmen, dem socialistischen Terrorismus
der fanatischen russischen Bureaukratie eine heilsame Schranke an den Marken
Oestreichs entgegenzusetzen, reden die Publicisten des Golvs, der Moskwa und
der Moskaner Zeitung von der bedauernswerthen Abschwächung der bisher
durchgreifenden russischen Politik in Polen, indem sie zugleich auf die Unver-
besserlichkeit des polnischen Adels hinweisen, der, kaum zu Luft gekommen, in
Galizien sein altes Jntriguenspiel wiederaufnehme und seine neue Aera mit
schamlosen Vergewaltigungen an dem Recht und der Habe des unglücklichen
galizischen Bauern inaugurire.

Die wichtigen Gesichtspunkte für eine unparteiische Beurtheilung des er¬
bitterten Haders in Galizien, wie für die Verhältnisse des russischen Theils der
ehemals polnischen Länder lassen sich nur aus einer Betrachtung der historischen
und ethnographischen Vorgeschichte jener Ländcrgcbictc gewinnen. Weil der
Osten Europas es nicht zu festen, selbständiger Cultur fähigen politischen Gestal¬
tungen gebracht hat, seine nationalen Institutionen noch immer einen halb
barbarischen Charakter tragen, die Formen des russisch-slawischen Staatslebens
großen Theils aus dem Westen importirt sind und ein halb bekanntes Gepräge
tragen — glaubt man in der westlichen Hälfte unseres Welttheils vielfach, jen¬
seits der Weichsel und Karpathen habe es keine eigentliche Geschichte gegeben.
Und doch sind die Kämpfe, um welche es sich auf der endlosen sarma-
tischen Ebene gegenwärtig handelt, nur directe Fortsetzungen Jahrhunderte
alter Rivalitäten, die ihren specifischen Charakter im Lauf der Zeit wenig
verändert haben. Historische und ethnographische Gegensätze, welche die Macht
der Civilisation im Occident längst gebrochen und zu einer höheren Einheit
aufgelöst hat, treiben im Osten noch ungebändigt ihr wildes Spiel, unterstützt
Von kirchlichen Spaltungen, die in der germanisch-romanischen Welt ihren dä¬
monischen Einfluß seit einem Jahrhundert eingebüßt haben. Seine ursprüng¬
liche Bedeutung hatte das sogenannte Nationalitätsprincip in Deutschland.
Frankreich, England u. s. w. verloren, bevor auch nur der Name für dasselbe
erfunden war. Je weiter wir nach Westen gehen, desto vollständiger decken sich
die politischen und nationalen Grenzen; die Naccnunterschiede in den einzelnen
Staatsverbänden haben (wenn wir Irland aufnehmen) in den westlichen Cultur¬
ländern ihre Rolle längst ausgespielt, die Macht der Civilisation hat die sla¬
wischen Gruppen innerhalb des deutschen, die galizischen Stämme innerhalb des
englischen Staatsgebiets längst consumirt, die verschiedenen Bestandtheile des
französischen oder des spanischen Volks zu einer ununterscheidbaren Masse zu¬
sammengegossen und die Parteien, nach welchen man sich in diesen Ländern
classificirt und zusammenfindet, gruppiren sich um Gegensätze feinerer, geistigerer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/252>, abgerufen am 22.12.2024.